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Das Drama des modernen Kindes

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Der Psychologe Wolfgang Bergmann über Narzissmus, Gewalt und Computerheroen


von Christian Schüle (Gesprächsführung)



die zeit: Gewalt in der Pubertät hat es immer schon gegeben. Hat sich die Qualität verändert?


Wolfgang Bergmann: Zielgerichtete Gewalt in der Pubertät wird dramatischer. Sie kommt heute viel früher und viel häufiger. Kinder schlagen heute bereits im vorpubertären Alter ziemlich rücksichtslos zu. Die natürliche Scheu baut sich schon früh ab. Notrufe, die einen Kinderpsychologen erreichen, kommen zunehmend aus den Grundschulen. Wir stellen da eine merkwürdig hohe Unempfindlichkeit bei den Kindern fest.


zeit: Ist der häufig erhobene Vorwurf berechtigt, die Gesellschaft sei nicht mehr in der Lage, ihren Mitgliedern die Idee des Sozialen zu vermitteln?


Bergmann: Die Gesellschaft hält ihre Grundorientierungen nicht mehr aufrecht. Eine Gesellschaft, die ihre Kinder nicht schützt, wird nicht erwarten können, dass die Kinder ihr Respekt entgegenbringen. Die Folgen dafür tragen wir alle gemeinsam. Für die Einhaltung von Normen fühlt sich niemand zuständig. Wir fühlen uns alle zunehmend nicht als Mitglieder eines übergeordneten Gedankens. Das geht bis in die Familien hinein - der Familienname, die Familientradition, das ist alles aufgelöst. So entsteht eine Leerstelle, eine Schutzlosigkeit, auf die Kinder unter Umständen aggressiv reagieren.


zeit: Das soziale Umfeld pubertierender Kinder hat sich völlig verändert. Sehen Sie Zusammenhänge zwischen Konflikten in Familien, Gewaltbereitschaft der Kinder, Fernsehkonsum und Videospielen?


Bergmann: Kinder wachsen heute in einem hoch verdichteten Medienumfeld auf. Der Computer ist dabei die Intensivierung und Fortentwicklung der Fernseherfahrung. Computerspiele befriedigen in ihrer inhaltlichen, ästhetischen und technologischen Perfektion sehr viele ganz frühe narzisstische Bedürfnisse dieser Kinder: Sie kommen wieder an ihre frühen Größenselbstträume heran, wo sich ihr "Ich-Ideal" entwickelt. Wenn sich das Kind in dieser Phase mit dem Computerheroen, dem Terminator etwa, identifiziert, muss es nicht mehr interagieren, sondern nur noch schnell reagieren. Das ist immer die Identifikation mit einer restlos dissozialen Figur.


zeit: Die reale Welt wird in den Spielen also als Schein wahrgenommen, den man jederzeit mit einem Mausklick wegschalten kann?


Bergmann: Ja. Der Unterschied zwischen Existenz und Nichtexistenz ist fließend. Der Spieler kann etwas ins Leben rufen - in einer geschlossenen Symbolwelt im Cyberspace oder auf dem Monitor, und er kann alles nach Belieben vernichten. Das ist die Logik dieser Spiele.


zeit: Das Kind als Spieler ist ein kleiner Gott vor dem Monitor.


Bergmann: Da offenbart sich die ganze Dialektik des Narzissmus: Über die Identifikation mit Computerheroen bin ich als Spieler allgewaltig und erliege der Verlockung, zu zerstören. Gesellschaftliche Regeln interessieren nicht mehr. Die Dissozialität, die Auflösung des sozialen Prinzips, ist der entscheidende Punkt. Etwas Vergleichbares lässt sich an den Essstörungen der Mädchen ablesen. Insofern spiegeln sich die hyperaktiven, aggressiven und omnipotenten Verhaltensweisen der Jungen in den perfekt in Erscheinung tretenden und selbstzerstörerischen der Mädchen. Wir beobachten allerdings zunehmend, dass kleine Mädchen gewalttätiger werden - auf eine ähnliche Art wie Jungen, mit Messern und Fäusten. Umgekehrt werden Essstörungen und die gegen den eigenen Körper gewendete Destruktivität bei Jungen auffälliger. Die Unterschiede verwischen allmählich. Es ist nicht geklärt, woher das kommt. Die Psychiatrie ist hilflos angesichts der vielen Selbstverletzungen: Ritzen, Schneiden und zunehmend auch Brennen, wenn sich die Kinder Zigaretten in den Arm drücken.


zeit: Was halten Sie von der Theorie, dass die medialen Scheinerfahrungen die realen Lebenserfahrungen der Kinder überlagern und dadurch das Ich-Ideal und ihren Ehrgeiz ausschalten?


Bergmann: Aus der Dissozialität und dem verdichteten Medienumfeld entwickelt sich ein hoch schwebendes Ich-Ideal, dem gleichzukommen niemandem gelingen kann. Also sucht man permanent Entlastung: Ich schlage zu oder wende mich gegen den eigenen Körper und bin doch permanent auf der Suche nach jemandem, der mich aus alldem erlöst.


zeit: Ist das Ihre Erklärung für den Amoklauf in Erfurt, als ein 19-Jähriger in der Schule ein Massaker anrichtete?


Bergmann: Ja. Ich wage zu prophezeien, dass wir in einem Jahr dasselbe wieder erleben werden und später noch mal und noch mal. Vier Amokläufer hat es jetzt in zwei Jahren gegeben, der letzte davor geht zurück ins Jahr 1964. Erfurt ist das Menetekel für die Tragödie des perfekten Selbstbildes. Wenn dissoziale, narzisstische Kinder fallen gelassen werden, stürzen sie in die Leere.


zeit: Gibt es therapeutische oder pädagogische Netze?


Bergmann: Aus diesem Dilemma gibt es so gut wie keinen Ausweg. Die Eltern sind wahrscheinlich die Einzigen, die überhaupt eine Chance zur Intervention haben - wenn sie starke Eltern sind. Interessant ist die restlose Hilflosigkeit der Kinderpsychologen, Lehrer, Erzieher und Kindergärtner. Wir alle verstehen nicht, was da vor sich geht.


zeit: Ist die Sehnsucht nach sozialer Anerkennung der Schlüssel?


Bergmann: Das Kind strebt einer Perfektion nach, die durch Fernsehbilder und Computerspiele geprägt sind. Es orientiert sich an Idealen, die nicht erreichbar sind. Das ist das Drama des modernen Kindes.


Wolfgang Bergmann ist Erziehungswissenschaftler und Leiter des Instituts für Kinderpsychologie in Hannover


Quelle: http://www.zeit.de/2002/33/Politik/print_200233_interview.html