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Ist der Religionsunterricht an Beruflichen Schulen überflüssig?


Es ist wieder einmal soweit. Der Religionslehrer ist mit einer Tonne voll Bauklötzen unterwegs in seine Klasse. Die Bedeutung der Blicke, die ihm auf dem Gang von Schülern und Kollegen folgen, liegen irgendwo zwischen Mitleid und „ich hab’s ja gewusst“. Bauklötzchen im Religionsunterricht? Ist der Religionslehrer nun völlig durchgedreht ob der vielen Opiumschwaden, deren er in seinem religiösen Leben schon abbekommen hat (vgl. K. Marx)? Bahnt sich etwa eine handfeste hysterisch-infantile Projektionsneurose an (vgl. F. Nietzsche, S. Freud)? Oder ist dies einfach eine neue Form der Beschäftigungstherapie, denn um nichts anderes geht es im Religionsunterricht ja schließlich?


Der Lehrer öffnet die Tür zum Klassenzimmer. „Was hams denn heut’ dabei?“ „Samma im Kindergarten?“ Gewonnnen. Der Impuls hat gesessen. Fragende Blicke verunsichertes Lachen, der Lehrer hat die volle Aufmerksamkeit. Wann gelingt das schon? Der Lehrer teilt die Schüler in Gruppen ein, jede Gruppe bekommt eine Anzahl Bauklötze sowie sechs Spielfiguren, die gleichmäßig auf den Klötzen verteilt werden.

Dann folgt die Spielanleitung: Aus den Bauklötzchen ist innerhalb einer bestimmten Zeit ein möglichst hoher Turm zu bauen. Dabei sollen möglichst wenige Bauklötze, auf den Spielfiguren stehen, für den Turmbau verwendet werden. Der höchste Turm gewinnt. Zwei Minuten später sind 23 heranwachsende Jugendliche eifrig damit beschäftigt, Türme aus Bauklötzen zu konstruieren. Ideen werden genannt, wieder verworfen und der eine oder andere Turm auch wieder umgeworfen. Nach drei Minuten das Zeitzeichen: Stopp! Die Türme werden vermessen, die Sieger sind schnell ermittelt.

Den Schülern scheint es Spaß zu machen, einige lachen, reden ungezwungen miteinander. Der nächste Schritt folgt: Lesen der biblischen Erzählung vom Turmbau zu Babel. Aha, sagt einer, wir haben alle einen kleinen babylonischen Turm gebaut. Ein Symbol also. Aber was ist mit den Spielfiguren, den „Manschkerln“? Wie viele sind es? Sechs. Wie viele Menschen leben auf der Erde? Sechs Milliarden. Aha! Noch ein Symbol. Und was bedeuten die Symbole? Wie viel Lebensraum hatten die symbolischen Menschen vor Beginn des Turmbaus? Wie viel Lebensraum nach der Vollendung des Bauwerks? Der Turm als Symbol für die von Menschenhand gemachte Zerstörung des eigenen Lebensraumes? Der Turm als Symbol für einen hemmungslosen Fortschritts- und Technikglauben des Menschen? Der Turm als Symbol dafür, dass der Mensch lieber selbst Gott spielt und die Welt nach seinen zum Teil fragwürdigen Zielen gestaltet? Der Turm als Symbol für die verkorksten und lächerlich wirkenden Versuche menschlicher Genversuche? Der Name „Frankenstein“ fällt. Die Schüler stellen Fragen über Fragen, sind aufmerksam bei der Sache. „Und wir haben auch alle gebaut wie die Blöden!“ Der Lehrer schaudert.
Erkenntnis, Einsicht. Darf das sein? Im Religionsunterricht?
Wird eine biblische Geschichte auf diese Art und Weise gedeutet, spricht die Religionspädagogik von der „Resymbolisierung“: Ein zum „Symbol“ erstarrter biblischer Text wird „zurückübersetzt“, d.h. die Schüler erleben die Erfahrung, die einen biblischen Autor vor vielleicht dreitausend Jahren zu seiner Erzählung veranlasst haben, noch einmal. So werden sie fähig zu verstehen, warum der Text entstanden ist und welche bleibende Bedeutung er hat.

Noch ein Impuls: Der Lehrer zeigt nun ein Bild. Darauf ist der Atompilz der gerade über Hiroshima gezündeten Bombe zu sehen. Höhe: ca. 10.000 Meter. Er ähnelt erschreckend einem Turm. Dem Turm zu Babel? Die Schüler bearbeiten nun ein Arbeitsblatt, auf dem sie sich mit einem kritischen Zitat von C. F. v. Weizsäcker beschäftigen. Es herrscht konzentrierte Ruhe. Die Schüler sind nachdenklich. Nachher eine kurze Diskussion. Kritik an unseren modernen, pseudo-aufgeklärten, überheblich-selbstgefälligen, vom hemmungslosen Turbokapitalismus zerfressenen westlichen Gesellschaften wird laut. Die Schü
ler sagen das im Ausdruck anders, in der Sache aber genau so. Es läutet. Die Stunde ist um. „Was, schon“? Nicht der Wecker läutet, sondern der Schulgong. Denn der Lehrer hat diese Stunde nicht geträumt, sondern tatsächlich so erleben dürfen.


Das Fach Religion wird seit Jahren besonders an beruflichen Schulen immer wieder bekämpft. Überflüssig sei er, der fachliche Unterricht komme zu kurz, heißt es. Außerdem könne man ja beim Religionsunterricht nicht von Unterricht sprechen, allenfalls von Beschäftigungstherapie mit Note. Auch an unserer Schule dankten Schülersprecher in Abschlussreden schon für den „unermüdlichen Kampf“, den Kollegen gegen den Religionsunterricht führen. Ist also der Religionsunterricht überflüssig? Wenn aus den Berufsschulen in Zukunft unkritische, mit fachlichem Detailwissen voll gepackte, manipulierbare Objekte entlassen werden sollen, dann gilt: Ja, der Religionsunterricht ist überflüssig. Wenn der Religionsunterricht aber seinen kleinen Teil dazu beitragen soll, junge Menschen zu begleiten auf dem Weg zu kritischen, demokratischen, selbst- und verantwortungsbewussten, fachlich und allgemein-gebildeten, wachen Subjekten, nämlich Persönlichkeiten, dann gilt: Nein, der Religionsunterricht ist nicht überflüssig, sondern überfällig.

Thilo Braun, Berufliche Schulen Schongau