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Der werdene Mensch - Zur Persönlichkeitsentwicklung der Kinder in unserer Gesellschaft

Plädoyer für eine Übernahme von Erkenntnissen der philosophischen Anthropologie und der Sozialisationsforschung in die Bildungsdebatte

TagesheimschülerVortrag von Dr. Johannes Schwarte am 3. April 2004 in Mooshausen auf der Tagung des "Freundeskreises Mooshausen e.V." zum Thema: "Bildung im Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft"

Ausgangsthese: Unsere Gesellschaft ignoriert weitestgehend wichtige Erkenntnisse der philosophischen Anthropologie und der Sozialisationsforschung über Bedingungen und Gefährdungen der Persönlichkeitsentwicklung im Kindesalter. Es handelt sich um Erkenntnisse, die im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts gewonnen wurden und der Öffentlichkeit im Prinzip seit Jahrzehnten gut aufbereitet zur Verfügung stehen. Sie sind aber bis heute nicht wirklich nachhaltig vom öffentlichen Bewußtsein rezipiert worden.
Verfolgt man die öffentliche Bildungsdebatte in unserer Gesellschaft, sofern man davon überhaupt sprechen kann, in einer von diesen Erkenntnissen bestimmten Perspektive, die ich der Kürze halber weiterhin als "sozialisationstheoretische Perspektive" bezeichnen werde, so kommt man um die Feststellung nicht herum, daß sich diese Debatten – gemessen am Kenntnisstand der eingangs genannten Wissenschaften – überwiegend durch eine schwer verständliche anthropologische Ignoranz "auszeichnen". Die Debatte wird geführt, als gäbe es die Erkenntnisse über die vollständige Ergebnisoffenheit des Persönlichkeitsentwicklungsprozesses im Augenblick der Geburt sowie über die sich daraus ergebende "Riskanz" der Persönlichkeitsentwicklung überhaupt nicht.

Vgl. Buchtipp: Johannes Schwarte: Der werdende Mensch- Persönlichkeitsentwicklung und Gesellschaft heute 2002. 556 Seiten Broschur. € 39,90 - ISBN 3-531-13870-7

Ein vorläufig noch utopisches Fernziel wäre eine staatliche Sozialisationspolitik oder "moralische Umweltschutzpolitik" analog zur physischen Umweltschutzpolitik durch Änderung des Grundgesetzes, sobald die politischen Mehrheitsverhältnisse dies möglich machen!


-> kompletter Vortrag


Grundlagen der modernen Erziehung und Identitätsbildung: Der werdende Mensch - Persönlichkeitsentwicklung und Gesellschaft heute

(von Johannes Schwarte)

Erklärtes Ziel des Buches ist die Eröffnung einer "sozialisationstheoretischen Perspektive" in den öffentlichen Debatten. Darunter versteht es die Betrachtung des Persönlichkeitsentwicklungsprozesses im Lichte der erwähnten Erkenntnisse der philosophischen Anthropologie, der Sozialisationsforschung, der Hirnforschung und der Bindungsforschung. Es erhebt nicht den Anspruch, der Öffentlichkeit grundlegend neue Erkenntnisse zu präsentieren. Vielmehr will es auf wichtige Erkenntnisse aufmerksam machen, die teilweise bereits einige Jahrzehnte alt sind (wie die Erkenntnisse der philosophischen Anthropologie und der Sozialisationsforschung), teilweise allerdings auch erst in jüngster Zeit gewonnen wurden (wie die Erkenntnisse der Bindungsforschung und der Hirnforschung), Erkenntnisse jedenfalls, die für die gesamte Gesellschaft und ihr Überleben von grundlegender Bedeutung sind, aber bisher kaum oder zu wenig beachtet wurden. Die Folgen der bisherigen mangelhaften Beachtung dieser wichtigen Erkenntnisse werden im Buch als "anthropologische Ignoranz des öffentlichen Bewußtseins" bezeichnet. Sie werde in den öffentlichen Debatten über die Ursachen der Kinder- und Jugendkriminalität und der Gewalttätigkeit ebenso deutlich wie in denen, die sich mit der Mordtat von Erfurt und den Ergebnissen der PISA-Studie befassen Das Buch plädiert dafür, solche Debatten in sozialisationstheoretischer Perspektive zu führen und damit den gesellschaftlichen Ursachen eine erheblich größere Beachtung als bisher zu schenken. Die "Entzivilisierungsphänomene" in unserer Gesellschaft dürften nicht länger übersehen, sondern müßten in ihrer Signalwirkung richtig gedeutet werden: nämlich als Anfrage an die Gesellschaft, welche Sozialisationsbedingungen sie ihrem Nachwuchs bietet und ob sie den wichtigsten Aspekt ihrer eigenen Zukunftssicherung gegenwärtig nicht sträflich vernachlässigt: nämlich daß der Persönlichkeitsentwicklungsprozeß des gesellschaftlichen Nachwuchses gelingt, so daß er psychisch stabil und sozialverträglich handlungsfähig ist und somit die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft garantieren kann.

In den beiden letzten Kapiteln wirbt das Buch für eine Integration der erwähnten neueren Erkenntnisse in die christliche Rede vom Menschen und in diesem Sinne für eine Dynamisierung des traditionellen christlichen Menschenbildes. Daraus wiederum kommen eine Reihe von Neuakzentuierungen der christlichen Gesellschaftsethik bzw. Gesellschaftslehre.

Das Buch befaßt sich mit der Problematik der Persönlichkeitsentwicklung unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen. Es nimmt eine Vielzahl sich häufender Phänomene gestörter Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen - wie etwa Aufmerksamkeits-Defizit- und Hyperaktivitäts-Störungen (ADHS), Mängel in der Sprachfähigkeit (Sprachfähigkeitsdefizite), im Sozialverhalten (Sozialkompetenz-Defizite) oder in der Körperbeherrschung - zum Ausgangspunkt. Es diagnostiziert als ihr gemeinsames Merkmal Sozialisationsdefizite und leitet aus dieser Diagnose den Hinweis auf die vielfältigen Gefährdungen der Persönlichkeitsentwicklung sowie eine sehr kritische Anfrage an die Sozialisationsbedingungen ab, die der Nachwuchs in unserer Gesellschaft vorfindet. Zugleich bekämpft es damit eine noch immer weit verbreitete, in ihren Konsequenzen verhängnisvolle naturwüchsige Vorstellung über den Prozeß der Persönlichkeitsentwicklung: als ob es sich dabei um die Entfaltung eines genetischen Programms handelte, so daß es nur eine Frage der Zeit wäre, bis aus dem Neugeborenen ein reifer, mündiger, sozialverträglicher und kompetenter Erwachsener geworden ist. Das Buch öffnet den Blick für die vielfältigen Möglichkeiten störender Einflußnahmen auf den Prozeß der Persönlichkeitsentwicklung. Es macht auf seine vollständige Ergebnisoffenheit im Augenblick der Geburt sowie auf die reale Möglichkeit des völligen Scheiterns dieses Prozesses aufmerksam.

Das Buch stellt sich die Aufgabe, der Öffentlichkeit wichtige Erkenntnisse der philosophischen Anthropologie über Besonderheiten des Menschen und der Sozialisationsforschung über den komplizierten und vielfältig beeinflußbaren Prozeß der "Menschwerdung des Menschen", Sozialisation genannt, zu vermitteln und dadurch eine spezifische Form von Aufklärung der Öffentlichkeit vorzunehmen: sozialisatorische Aufklärung. Es ist das Ziel des Buches, das sozialisatorische Verantwortungsbewußtsein der Gesellschaft zu wecken, damit die Gesellschaft sich ihrer - zumeist ungewollten und unbewußten - negativen Einflußnahmen auf den Persönlichkeitsentwicklungsprozeß ihres Nachwuchses deutlicher als bisher bewußt wird. Es will erreichen, daß die Gesellschaft ein spezifisches Verantwortungsbewußtsein hinsichtlich der Persönlichkeitsentwicklung ihres Nachwuchses entdeckt, aus dem sich dann nahezu zwangsläufig eine Reihe von gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen ergeben, die im Buch deutlich aufgezeigt werden. So kritisiert es beispielsweise unter Berufung auf Ergebnisse der Bindungsforschung den derzeitigen Trend in der Familienpolitik aller Parteien, Kinder primär nur noch als "Betreuungsfälle" zu betrachten und die "Betreuungsfrage" durch die Einrichtung von immer mehr "Betreuungseinrichtungen" zu lösen, damit die selbstverständliche Propagierung einer Berufstätigkeit von Müttern kleiner Kinder ungehindert fortgesetzt werden kann. Mit Blick auf die Propagatoren dieses Trends, die sich um wichtige Erkenntnis der Bindungsforschung nicht kümmern, stellt das Buch fest: "Sie wissen offensichtlich nicht, was sie tun".

Buchbestellung: Johannes Schwarte, Der werdende Mensch, 2002. € 39,90; ISBN 3-531-13870-7
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