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Mooshausen

Dr. Johannes Schwarte

 

Zur Persönlichkeitsentwicklung der Kinder in unserer Gesellschaft

 

Plädoyer für eine Übernahme von Erkenntnissen

der philosophischen Anthropologie und der Sozialisationsforschung

 in die Bildungsdebatte

 

Vortrag am 3. April 2004 in Mooshausen

auf der Tagung des "Freundeskreises Mooshausen e.V." zum Thema:

"Bildung im Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft"

 

 

Ausgangsthese

 

Unsere Gesellschaft ignoriert weitestgehend wichtige Erkenntnisse der philosophischen Anthropologie und der Sozialisationsforschung über Bedingungen und Gefährdungen der Persönlichkeitsentwicklung im Kindesalter. Es handelt sich um Erkenntnisse, die im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts gewonnen wurden und der Öffentlichkeit im Prinzip seit Jahrzehnten gut aufbereitet zur Verfügung stehen. Sie sind aber bis heute nicht wirklich nachhaltig vom öffentlichen Bewußtsein rezipiert worden.

 

Verfolgt man die öffentliche Bildungsdebatte in unserer Gesellschaft, sofern man davon überhaupt sprechen kann, in einer von diesen Erkenntnissen bestimmten Perspektive, die ich der Kürze halber weiterhin als "sozialisationstheoretische Perspektive" bezeichnen werde, so kommt man um die Feststellung nicht herum, daß sich diese Debatten – gemessen am Kenntnisstand der eingangs genannten Wissenschaften – überwiegend durch eine schwer verständliche anthropologische Ignoranz "auszeichnen". Die Debatte wird geführt, als gäbe es die Erkenntnisse über die vollständige Ergebnisoffenheit des Persönlichkeitsentwicklungsprozesses im Augenblick der Geburt sowie über die sich daraus ergebende "Riskanz" der Persönlichkeitsentwicklung überhaupt nicht.

 

Es dominiert in unserer Gesellschaft de facto – natürlich nicht explizit – noch immer eine quasi-naturwüchsige Vorstellung über den wichtigen Vorgang der Persönlichkeitsentwicklung: als ob es sich lediglich um die Entfaltung eines genetischen Programms handelte, so daß es nur eine Frage der Zeit wäre, bis aus dem neugeborenen Menschenkind eine reife Persönlichkeit, ein mündiger Bürger mit Handlungskompetenz, sozialer und moralischer Kompetenz geworden ist. Unsere Gesellschaft hat die wichtige Feststellung Arnold Gehlens, daß der Mensch ein "riskiertes" Lebewesen ist, versehen mit einer "konstitutiven Chance zu verunglücken", bis heute nicht wirklich "verinnerlicht". Sie glaubt offenkundig nicht wirklich daran, "daß Menschsein von der Wurzel her total mißlingen kann", wie Joachim Illies in Anlehnung an Christa Meves festgestellt hat.

 

Hätte unsere Gesellschaft solche Erkenntnisse, denen theoretisch nicht widersprochen werden kann und denen im Prinzip auch niemand widerspricht, wirklich beherzigt, dann sähen nicht nur die öffentlichen Debatten zu Fragen der Erziehung und Bildung anders aus, sondern es würde der Bedeutung der ersten Lebensjahre des Kindes und der vorschulischen Bildung eine viel größere Beachtung geschenkt werden, als dies gegenwärtig geschieht.

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Drama der Persönlichkeitsentwicklung

in "sozialisationstheoretischer Perspektive"

 

In aller Kürze sei hier skizziert, wie sich das Drama der Persönlichkeitsentwicklung in sozialisationstheoretischer Perspektive darstellt. In dieser Perspektive ist die Persönlichkeitsentwicklung kein naturwüchsiger Vorgang im Sinne der Entfaltung eines genetischen Programms, sondern ein völlig ergebnisoffener Prozeß, der durch vielfältige Faktoren beeinflußt wird.

 

Das neugeborene Menschenkind bildet in dieser Perspektive einen "plastischen Organismus mit der Möglichkeit der Menschenwerdung". Für die Realisierung dieser Möglichkeit übernimmt die Natur selbst keine Gewähr. Nicht einmal den aufrechten Gang garantiert die Natur. Findet das junge Menschenkind in seiner Umgebung keine sich aufrecht bewegenden Lebewesen, also Menschen vor, so daß es keine Möglichkeit hat, den aufrechten Gang zu imitieren, wächst es zum Beispiel unter Tieren auf, so daß es nur vierbeinig sich fortbewegende "Vorbilder" hat, die es imitieren kann, so wird es sich auf allen Vieren fortbewegen und den aufrechten Gang nicht praktizieren. Und natürlich wird es das Sprechen nicht lernen, wenn es nicht von Menschen angesprochen wird und mit ihnen kommunizieren kann.

 

Außer durch eine nahezu unbegrenzte Plastizität zeichnet sich der "plastische Organismus mit der Möglichkeit der Menschwerdung" des neugebornen Menschenkindes durch

·         eine hohe Sensitivität für Umweltreize, ferner durch

·         ein starkes Bedürfnis nach Sozialkontakt sowie durch

·         einen starken Nachahmungstrieb (Imitationstrieb) aus.

 

Die Kombination dieser Merkmale setzt den Sozialisationsprozeß in Gang und bewirkt gleichzeitig auch seine Ergebnisoffenheit.

 

Ein gelungener Persönlichkeitsentwicklungsprozeß mit dem Resultat einer "reifen, handlungs- und verantwortungsfähigen Persönlichkeit" ist also kein Naturresultat – wie das ausgewachsene Tier eines ist -, sondern ein Gesellschaftsresultat, genauer gesagt das Ergebnis eines höchst komplizierten und äußerst störanfälligen Prozesses der Prägung durch das gesellschaftlich-kulturelle Umfeld ("Sozialisationsmilieu") und der Auseinandersetzung mit diesem Umfeld.

 

Die fortschreitenden Erkenntnisse der Sozialisationsforschung, zu denen neuerdings auch die Hirnforschung und die Bindungsforschung zu rechnen sind, haben zur Folge gehabt, daß der Bedeutungsumfang des Begriffs "Plastizität" ständig weiter zunimmt. Auch das menschliche Gehirn wird von der neueren Hirnforschung als plastische Größe erkannt, die sich durch die Verarbeitung der jeweiligen umweltspezifischen Sinneseindrücke selbst organisiert und weiterentwickelt – oder aber verkümmert.

 

Durch die fortschreitenden Erkenntnisse der Hirnforschung ist immer deutlicher geworden, daß auch das Großhirn des Menschen der nahezu unbegrenzten Plastizität des Menschen unterliegt. Es hat sich sogar als besonders plastisch erwiesen. Experten sehen aufgrund dieser Erkenntnisse im Großhirn die physiologische Grundlage des gesamten Sozialisationsprozesses. So schreibt Ferdinand Oeter: "Innerhalb der durch die Vererbung und die intrauterine Entwicklung festgelegten Grenzen ist das Leben des Menschen im Zeitpunkt seiner Geburt noch nach allen Seiten hin völlig offen. Eine Festlegung erfolgt erst durch unterschiedliche Ereignisse. Durch sie wird das Individuum unwiderruflich mehr oder weniger verschieden geprägt. Die Funktion des Großhirns besteht also offenbar darin, immer wieder eine plastische Anpassung an die wechselnden Gegebenheiten der Umwelt zu ermöglichen. Insofern bildet es die physiologische Grundlage eines lebenslangen Sozialisations-, Enkulturations- und Personalisationsprozesses des Menschen".[1]

 

Die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Christa Meves schreibt zu diesen wichtigen Erkenntnissen der neueren Hirnforschung: "Zwei der überraschendsten und grundlegendsten Entdeckungen der Hirnforschung besagen, daß das Gehirn sich mit Hilfe der Außenwelt selbst formt und daß es entscheidende Entwicklungsphasen durchläuft, in denen die Gehirnzellen auf bestimmte Arten der Reizbeeinflussung angewiesen sind, um überhaupt irgendwelche Fähigkeiten aufbauen zu können. Die Forscher sind zu der Ansicht gelangt, daß unsere Gene - die chemischen Entwurfsvorlagen des Lebens - zwar die grundlegende Struktur des Gehirns aufbauen, daß dann aber sogleich die Umwelt das Steuer übernimmt und für unsere individuelle Endausstattung sorgt. Ein klarer Fall von Arbeitsteilung: Die Gene stellen die Bauteile zur Verfügung, und die jeweilige Umgebung, die Erfahrungen geben wie ein Architekt die Anweisungen zur Endmontage".

 

Es sei eine faszinierende Entdeckung, "daß die Außenwelt in der Tat die eigentliche Nahrung des Gehirns darstellt". Das Gehirn verschlinge geradezu seine äußere Umwelt durch Sehen, Hören, Riechen, Fühlen und Schmecken. Die so mit allen Sinnen aufgenommene Welt werde im Gehirn durch Billionen von Verbindungen zwischen den Gehirnzellen, den sogenannten Synapsen, wieder zusammengesetzt. Diese Synapsen entwickeln sich also in Abhängigkeit von der über die Sinneseindrücke vermittelten Außenwelt. Sie wachsen und vergehen, werden stärker oder schwächer, "je nachdem, wie reichhaltig die Außeneindrücke gerade ausgefallen sind".

 

"Das Gehirn eines Kindes wächst und gedeiht also mit der Rückkoppelung, die es von seiner Umwelt erhält. Das Gehirn selbst bildet sich durch die Erfahrungen, die das Kind macht, zum denkenden und fühlenden Organ heran. Diese Erfahrungen nimmt das Gehirn in Form von Klängen, visueller Stimulation, Berührungen, Gerüchen, Geschmacksreizen und durch die besonders wichtige Interaktion mit anderen Menschen auf. Das Gehirn ist ein Organ, das sich selbst strukturiert: Es wartet begierig auf neue Eindrücke. Diese Netzwerke können verkümmern, wenn mit den frühkindlichen Erfahrungen nicht auch eine entsprechende geistige Stimulation einhergeht - oder wenn sie mit Stress befrachtet sind. Ein Mangel an Ansprache kann das Gehirn geradezu lahm legen. Emotional positiv Erlebtes hingegen fördert die Hirnentwicklung".[2]

 

Die Art und das emotionale Klima der Hirnstimulation ist also von entscheidender Bedeutung. Die wichtigste Entdeckung der Hirnforschung besteht für Meves in der Bestätigung der psychotherapeutischen Erfahrung, "daß das Gehirn sich durch Übung ständig verbessert und durch Nichtgebrauch geradezu 'einrostet'".

 

Auch die noch relativ junge Bindungsforschung hat zu wichtigen Erkenntnissen über den Prozeß der Persönlichkeitsentwicklung und seine Anfälligkeiten für Störungen geführt. Insofern sind auch ihre Erkenntnisse der Sozialisationsforschung zuzuordnen.

 

Die in den fünfziger und sechziger Jahren das 20. Jahrhunderts von dem Londoner Psychiater und Psychoanalytiker John Bowly (1907 - 1990) entwickelte Bindungstheorie besagt im Kern, daß der Mensch, ebenso wie eine Vielzahl anderer Lebewesen, ein biologisch angelegtes 'Bindungssystem' besitzt. Es stellt nach Bowly "ein primäres, genetisch verankertes motivationales System dar, das zwischen der primären Bezugsperson und dem Säugling in gewisser biologischer Präformiertheit nach der Geburt aktiviert wird und überlebenssichernde Funktion hat". Es wird aktiviert, sobald eine äußere oder innere Gefahr auftaucht. Kann diese Gefahr aus eigenem Vermögen nicht behoben werden, wird das sogenannte 'Bindungsverhalten' ausgelöst. Ein kleines Kind wendet sich dann an seine Mutter oder seinen Vater, zu denen es eine ganz spezifische 'Bindung' aufbaut. In diese Bindungsbeziehung gehen seine Gefühle, Erwartungen und Verhaltensstrategien ein, die es aufgrund seiner Erfahrungen mit den wichtigsten Pflegepersonen entwickelt hat. Das sogenannte Bindungsmuster, das sich in Anpassung an diese während des ersten Lebensjahres ausprägt, wandelt sich im Laufe der Zeit, bleibt aber in seinen Grundstrukturen in den meisten Fällen relativ konstant.

 

"Für das unselbständige menschliche Neugeborene und Kleinkind ist die Person, die Schutz und Fürsorge gewährt, und die Bindung an sie von lebenserhaltender Bedeutung. Das Bedürfnis nach dem 'sicheren Hort und Hafen' oder - mit anderen Worten - nach einer zuverlässigen Bindungsperson, die in Gefahrensituationen Schutz und Hilfe gewährt, bleibt aber während des ganzen Lebens bestehen. Auch bei Erwachsenen wird in einer solchen Lage das in der frühen Kindheit ausgeprägte Bindungssystem aktiviert und löst schutzsuchendes Bindungsverhalten aus".[3]

 

Beim Studium der Lebensläufe von psychisch schwer gestörten Kindern und Jugendlichen ist Bowly immer wieder auf extreme reale frühkindliche Traumatisierungen dieser Kinder gestoßen. Er erkannte, daß diese in ihren Auswirkungen auf die Entwicklung ihrer Persönlichkeit bedeutungsvoll waren. Die von den Kindern berichteten Erfahrungen hielt er nicht für Produkte ihrer Phantasie. Bei der Ursachenforschung über die mögliche Entwicklung der Psychopathologie dieser Kinder mußte er erkennen, daß in ihren Lebensgeschichten Erfahrungen mit vielfältigen frühen Verlusten und Trennungen von Bezugspersonen gegenüber anderen berichteten traumatischen Erlebnissen auffällig in den Vordergrund rückten.

 

 

Der Säugling sucht besonders dann die Nähe zu seiner Mutter, wenn er Angst erlebt. Dies kann der Fall sein, wenn er sich von seiner Mutter getrennt fühlt, unbekannte Situationen oder die Anwesenheit fremder Menschen als bedrohlich erlebt, wenn er etwa an körperlichen Schmerzen leidet oder sich in Alpträumen von seinen Phantasien überwältigt fühlt. Er erhofft sich von der Nähe zu seiner Mutter Sicherheit, Schutz und Geborgenheit. Das Nähesuchen wird durch Blickkontakt zur Mutter, aber auch besonders durch Nachfolgen und Herstellen von körperlichem Kontakt mit der Mutter erreicht. Dabei ist das Kind immer ein aktiver Interaktionspartner, der seinerseits signalisiert, wann Bedürfnisse nach Nähe und Schutz auftauchen und befriedigt werden wollen.

 

"Bindung ist [...] ein emotionales Band, das sich während der Kindheit entwickelt, dessen Einfluß aber nicht auf diese frühe Entwicklungsphase beschränkt ist, sondern sich auf alle weiteren Lebensabschnitte erstreckt. Somit stellt Bindung eine emotionale Basis während des ganzen Lebens bis ins Alter hinein dar [...]. Die Bindungstheorie gehört heute zu den durch empirische, insbesondere prospektive Längsschnittstudien am besten fundierte Theorie über die psychische Entwicklung des Menschen [...]. (Sie hat) als ein wesentlicher Baustein zum Verständnis lebenslanger menschlicher Entwicklung beigetragen".[4]

 

Die Bindungstheorie teilt die Kinder unter dem Gesichtspunkt ihres Bindungsverhaltens in drei Kategorien ein:

 

·         Sicher gebundene Kinder (50 bis 60 Prozent) empfinden die Trennung von der Mutter als Streß, freuen sich über ihre Rückkehr und wenden sich danach wieder erneut ihrem Spiel zu.

 

·         Unsicher-vermeidend gebundene Kinder (etwa 30 bis 40 Prozent) zeigen bei der Trennung von der Mutter kein Bindungsverhalten, spielen in der Regel ungerührt weiter und zeigen nach ihrer Rückkehr eher Ablehnung.

 

·         Unsicher-ambivalent gebundene Kinder (etwa 10 bis 20 Prozent) zeigen bei der Trennung von der Mutter den größten Streß, weinen heftig und können auch nach ihrer Rückkehr kaum beruhigt werden. Sie brauchen lange, bis sie wieder einen emotional stabilen Zustand erreichen. Einerseits äußern sie den Wunsch nach Körperkontakt mit der Mutter, verhalten sich ihr gegenüber andererseits aber gleichzeitig aggressiv.

 

Die Erkenntnisse der Hirnforschung und der Bindungsforschung ergänzen sich zugleich in wichtigen Aspekten. So hat es sich gezeigt, daß es einen sehr direkten Zusammenhang gibt zwischen der emotionalen Sicherheit des Kindes als Resultat einer sicheren Bindung und der Entwicklung des Gehirns.

 

Der Göttinger Hirnforscher Gerald Hüther schreibt über die Bedeutung der emotionalen Sicherheit für die Entwicklung des kindlichen Gehirns: "Jedes Kind ist einzigartig und verfügt über einzigartige Potentiale zur Ausbildung eines komplexen, vielfach vernetzten und zeitlebens lernfähigen Gehirns. Ob und wie es ihm gelingt, diese Anlagen zu entfalten, hängt ganz wesentlich von den Entwicklungsbedingungen ab, die es vorfindet, und von den Erfahrungen, die es während der Phase seiner Hirnreifung machen kann. Jedes Kind braucht ein möglichst breites Spektrum unterschiedlichster Herausforderungen, um die in seinem Gehirn angelegten Verschaltungen auszubauen, weiterzuentwickeln und zu festigen, und jedes Kind braucht das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, um neue Situationen und Erlebnisse nicht als Bedrohung, sondern als Herausforderung bewerten zu können. Beides gibt es nur in intensiven Beziehungen zu anderen Menschen, und es sind die frühen, in diesen Beziehungen gemachten und im kindlichen Hirn verankerten psychosozialen Erfahrungen, die seine weitere Entwicklung bestimmen und sein Fühlen, Denken und Handeln fortan lenken".[5]

 

Von besonderer Bedeutung ist die Erkenntnis, daß die Plastizität und die daraus resultierende Formungsbedürftigkeit des Menschen auch seinen Geist, seine Moral und sein Gewissen mit umfaßt. Der Erziehungsbedürftigkeit des Menschen ist also keineswegs bereits Genüge getan, wenn er den aufrechten Gang, die Sprache und die elementaren Kulturtechniken beherrscht. Genauso wenig wie der aufrechte Gang oder eine Sprache, gehören Moral und Gewissen zur "Naturausstattung" des Menschen. Für all diese Eigenschaften bzw. Fähigkeiten bringt der Mensch lediglich die Voraussetzungen mit. Sie gehören zur "Naturausstattung", nicht aber ihre Verwirklichungen. Sie gehören zur Kultur des Menschen, die immer eine gesellschaftlich vermittelte ist.

 

Der Sozialethiker Johannes Messner hat 1952 ein Buch verfaßt mit dem Titel "Widersprüche in der menschlichen Existenz", dessen Grundimpuls aus der Frage resultiert, was die Anthropologie zur Erklärung der Katastrophe des Nationalsozialismus beitragen könne. Darin schreibt er: "Es ist eine der Grundeinsichten der Anthropologie und der Sozialwissenschaften, daß für die Entwicklung des Menschen und seiner Anlagen mindestens soviel von der Umwelt abhängt wie von seinen angeborenen Anlagen. Das gilt auch für das Gewissen". Das Gewissen von Menschen, die in "abträglicher Umgebung aufwachsen", könne "so wenig entwickelt sein, daß der Glaube begründet erscheint, es fehle ihnen das Gewissen überhaupt [...]. Nichts wäre verfehlter, als zu glauben, die in einer Gesellschaft allgemein geltenden sittlichen Standards seien angeboren. Das Gewissen wird, wie überhaupt der Geist des Menschen, durch die Gesellschaft geformt, in der er heranwächst".[6]

 

 

Mangelnde Beachtung dieser Erkenntnisse durch unsere Gesellschaft

 

Diese Erkenntnisse werden in unserer Gesellschaft kaum beachtet. Und doch enthalten sie den Schlüssel zum Verständnis mancher Gegenwartsprobleme, denen unsere Gesellschaft ziemlich ratlos gegenübersteht. Dabei denke ich in erster Linie an die dramatisch zunehmenden Persönlichkeitsentwicklungsschäden bei Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft. Auch bei der Erörterung der Ergebnisse der Pisa-Studie sollte man sich an diese Erkenntnisse erinnern, um den Irrglauben zu überwinden, man müsse diesen Ergebnissen in erster Linie mit erhöhten Bildungsinvestitionen begegnen. Die elementarste Voraussetzung für erfolgreiche Bildungsprozesse wird kaum erwähnt und diskutiert, weil sie noch immer als selbstverständlich gegeben unterstellt wird: wirklich bildungsfähige (das heißt zunächst einmal: schulfähige) junge Menschen. Als eine der entscheidenden Folgerungen aus den Ergebnissen der Pisa-Studie muß unsere Gesellschaft endlich zur Kenntnis nehmen, daß diese noch immer als gegeben fingierte Voraussetzung in einer ständig größer werdenden Anzahl von Fällen nicht gegeben ist.

 

Zu diesem wichtigen Aspekt, der in unserer Gesellschaft kaum erörtert wird, weil er offensichtlich ein Tabu darstellt, schreibt Christa Meves: "Weil am Lebensanfang, besonders in den ersten beiden Jahren, das Gehirn zu wenig oder falsch stimuliert sein kann, deshalb sind bereits viele Schulanfänger schon vom ersten Schultag an mit intellektuellen oder psychischen Mängeln behaftet, die durch eine frühzeitige angemessene geistige Stimulation hätte verhindert werden können. Das sind diejenigen, die später einmal bevorzugt zu Problemschülern werden oder gar völlig versagen. Achtzig Prozent der Gefängnisinsassen in den Vereinigten Staaten haben die Schule vorzeitig abgebrochen. Und auch in Deutschland sind bereits zehn Prozent der Hauptschüler nicht ausbildungsfähig, wenn sie die Schule verlassen. Aus ihnen rekrutiert sich ein erheblicher Teil unserer Arbeitslosen wie auch derjenigen Patienten, die trotz vieler psychotherapeutischer Versuche beträchtliche Heilhindernisse aufweisen, weil es ihnen an Durchhaltefähigkeit bei der Arbeit und an Belastbarkeit mangelt. Und gerade diese Schwierigkeit bewirkt eine geringe Therapiefähigkeit".[7]

 

Zwar bleibe das Gehirn über das ganze Leben hinweg grundsätzlich lernfähig; aber kein anderer Lebensabschnitt sei hinsichtlich der Lernfülle mit dem der frühen Kindheit vergleichbar. Im Laufe der ersten drei Jahre "baue" das in vollständiger Abhängigkeit lebende Kind bei angemessener Pflege "ein enorm komplexes Gehirn zusammen", das es ihm ermögliche "zu sprechen, zu lieben, zu spielen, Erkundungen vorzunehmen und eine einzigartige emotionale Persönlichkeit zu entwickeln". Aber im ungünstigen Falle kann die Emotionalität auch negativ besetzt sein, wie Christa Meves feststellt: "mit Angst statt mit Vertrauen, mit Mißstimmungen statt mit Lebenskraft, mit Unzufriedenheit statt mit Zuwendungsbereitschaft. Überläßt man das Kind im Unmaß sich selbst, läßt man den Säugling über Stunden schreien, so verwelken die Synapsen. Das Gehirn bleibt leer".[8]

 

Was die Ergebnisse der Bindungsforschung anbetrifft, so wird - jedenfalls von Fachleuten - zunehmend deutlicher erkannt, daß sie in unserer gegenwärtigen Gesellschaft von zentraler Bedeutung sind. Sie bieten nicht nur eine wichtige Perspektive in der Beurteilung der gesellschaftlichen Sozialisationsverhältnisse, sondern gleichzeitig auch zentrale Kategorien der Kritik derselben. Denn gerade die Bindungsforschungsergebnisse machen deutlich, daß unsere Gesellschaft ihren Kindern wichtige Entwicklungschancen vorenthält.

 

Dieser Thematik war im November 2000 auf Initiative des bereits erwähnten Göttinger Hirnforschers Gerald Hüther ein Kongreß in Göttingen gewidmet unter dem Motto: "Im Teufelskreis der Selbstbezogenheit - Kinder ohne Entwicklungschancen".[9] Auf ihm wurden einerseits wichtige Erkenntnisse der Bindungsforschung und der Hirnforschung vorgetragen, und andererseits wurde die Frage erörtert, wie es um die Chancen einer gelingenden kindlichen Entwicklung in unserer Gesellschaft bestellt sei und woran es liege, daß die Rezeption wichtiger anthropologischer Erkenntnisse durch die Gesellschaft nicht erfolgt.

 

Als einer der Hauptgründe wurde die nicht geklärte Zuständigkeit in Gesellschaft und Staat für die Entwicklungsbedingungen der Kinder herausgestellt. Es wurde die mangelnde Rezeption dieser Erkenntnisse durch die Öffentlichkeit und als Folge daraus die mangelnde Rücksichtnahme unserer Gesellschaft auf Sozialisationsgesichtspunkte beklagt. Dies werde bereits an der mangelnden Klärung der Zuständigkeit und Verantwortlichkeit für die Persönlichkeitsentwicklungsbedingungen der Kinder und Jugendlichen in unserer Gesellschaft deutlich.

 

"In allen möglichen Bereichen, in Bildung, Kultur, selbst im Sport sind in unserer arbeitsteiligen Gesellschaft Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten geregelt. Aber für den Aufbau sicherer Bindungen bei Kindern ist niemand richtig zuständig und niemand wirklich verantwortlich. Kinder haben auf ihrer Suche nach emotionaler Geborgenheit keine Lobby. Wenn überhaupt, so werden ihre Hilferufe erst dann wahrgenommen, wenn sie [...] sie auffällig, vielleicht sogar schon straffällig geworden sind, geraten sie ins Blickfeld des öffentlichen Interesses. Dann fragen sich die Eltern, was sie möglicherweise falsch gemacht haben. Dann suchen die Erzieher und Lehrer nach Lösungen. Dann beginnen Erziehungswissenschaftler und Soziologen sich intensiver mit Lernstörungen, Verhaltensauffälligkeiten und anderen Defiziten zu beschäftigen. Dann muß auch der wachsenden Gewaltbereitschaft und der zunehmenden Kinder- und Jungendkriminalität mit polizeilichen und juristischen Mitteln Einhalt geboten werden, und irgendwann beginnt sogar die Wirtschaft, den Mangel an hochmotiviertem und gut ausgebildetem Nachwuchs zu beklagen und rasche Änderungen zu fordern. Spätestens dann werden auch die Politiker wach. Aber alles, was sie bis zur nächsten Wahl tun können, ist mit klugen Reden und viel Aktionismus den Eindruck zu erwecken, sie hätten das Problem erkannt und alles im Griff. Symptomatische Behandlung heißt das in der Medizin, 'Herumdoktern' nennt es der Volksmund, wohl wissend, daß man eine Krankheit nicht dadurch heilen kann, daß man ihre Symptome unterdrückt, sondern nur dadurch, daß man die Ursachen dieser Störungen sucht und - wenn man sie gefunden hat - auch behebt".[10]

 

Die folgende Feststellung stellt eine Art Quintessenz des Göttinger Kongresses dar. Unsere Gesellschaft wäre gut beraten, sie zu beherzigen. Politikerinnen und Politiker sollten sie durchmeditieren, bevor sei weitere Kindertagesstätten und Ganztagsschulen fordern. Es wäre dem Wohl der Kinder förderlicher, wenn die Politik sich statt dessen auf die Frage konzentrieren würde, wie es zu erreichen ist, daß Mütter kleiner Kinder wenigstens nicht aus materiellen Gründen gezwungen sind, ihre kleinen Kinder in fremde Obhut zu geben.

 

Die wichtige Feststellung des Göttinger Kongresses lautet: "Ohne Sicherheit bietende Beziehungen entwickeln Kinder keine sicheren Bindungen, und ohne sichere Bindungen können sich Kinder nicht zu eigenständigen, sozial kompetenten und verantwortlichen Persönlichkeiten entwickeln".[11]

 

 

 

Knappe Analyse der Sozialisationsbedingungen

für Kinder und Jugendliche in unserer Gesellschaft

 

Um das wahre Ausmaß der negativen Beeinflussung der Persönlichkeitsentwicklungsprozesse der Kinder und Jugendlichen in unserer Gesellschaft zu erfassen, ist es unbedingt erforderlich, wenigstens einen kurzen Blick auf das Sozialisationsklima unserer Gesellschaft zu werfen. Das gesellschaftlich Klima ist nämlich der entscheidende Sozialisationsfaktor. Welches Sozialisationsklima finden die Kinder und Jugendlichen heute vor? Wie bietet sich den Kindern die "Welt der Erwachsenen" heute dar?

 

Die Wochenzeitschrift "Christ in der Gegenwart" schrieb Anfang 1993, als eine erste Welle von Gewalt unser Land irritierte, mit Blick auf das Sozialisationsklima unserer Gesellschaft (ohne allerdings diesen Begriff zu gebrauchen): "Nichts kann pervers, böse, schrecklich genug sein, um die Menschen zu unterhalten. Das Böse, Skandale und Verbrechen füllen die bunten Seiten der seriösen Zeitungen ebenso wie die Revolverblätter, die Talkshows wie die Nachrichtensendungen".

 

Der Artikel nahm damit zugleich Bezug auf einen aufsehenerregenden Leitartikel im Wochenmagazin DER SPIEGEL. Daß ausgerechnet er sich genötigt sah, sich über den "steigenden Sittenverfall in unserer Gesellschaft" zu äußern, veranlaßte "Christ in der Gegenwart" zunächst zu der Feststellung, dieses Magazin habe "seit Jahrzehnten nicht ohne einen gewissen Zynismus selbst an der Zerstörung der gesellschaftlichen Normen gearbeitet". Daher sei es um so erstaunlicher, daß es "nun die fast unerträglich gewordene Zunahme an Obszönität und Brutalität in unseren Massenmedien" beklage.[12]

 

DER SPIEGEL schrieb im selben Jahr über das moralische Klima in Deutschland: "Die Schamschwellen sinken, die Mordlust sprengt alle Grenzen. Im Kampf um Massenkundschaft setzt die Medienindustrie, vor allem Kino und Privatfernsehen, hemmungslos auf Obszönität und Gewalt. Kulturkritiker beklagen die unüberbietbare Brutalisierung der Gesellschaft und rufen den moralischen Notstand aus. Das moderne Leben ist ein Treibhaus der niederen Instinkte, und die neuen Helden im Medien- und Kulturbetrieb neigen zu ungezügelter Selbstverwirklichung".

 

Ein "herber Klimawechsel" habe stattgefunden. Obszönität und extreme Brutalität, bislang streng geächtet, seien "herangewachsen zu salonfähiger Unterhaltung - während gleichzeitig die verunsicherte und verstörte Menschheit die explosive Zunahme realer Gewalt gegen Ausländer, in Schulen, auf der Straße, in Fußballstadien und öffentlichen Verkehrsmitteln verdammt". Durch die kulturpolitischen Köpfe geistert schon der apokalyptische Freudsche Lehrsatz: 'Der Verlust des Schamgefühls ist ein Zeichen von Schwachsinn'".

 

Es sei unübersehbar, so hieß es weiter, "daß der aufgeklärte Mainstream-Deutsche mehrheitlich libertine Lebensart bevorzugt. Sittliche Regelverstöße und Provokationen werden eher cool und amüsiert zur Kenntnis genommen, als daß sie Empörung auslösen. Die Mittelstandsgesellschaft hat sich zu einer Interessengemeinschaft Nahrung und Genuß entwickelt".[13]

 

Der frühere Bundespräsident Roman Herzog hat im Mai 1996 die Medienverantwortlichen der Bundesrepublik zu einem "Medientreff" nach Berlin ins Schloß Bellevue eingeladen und in seiner Eröffnungsansprache sehr deutliche Kritik an der zunehmenden "Boulevardisierung" in den Medien geübt. Er beklagte eine permanente "Abflachungsspirale" und wurde dann ungewöhnlich deutlich: "Kein Schwachsinn, keine Perversion, keine noch so abwegige Marotte, die nicht in extenso bunte Seiten und Bildschirme bevölkern würde. Noch nicht einmal die Exzesse, sondern diese unsägliche, ausweglose, schleichende Banalisierung und Trivialisierung machen die Hirne kaputt".[14]

 

Im Titel der Zeitung DIE WOCHE hieß es im Januar 1998: "Deutschland verblödet". Die Zeitung rechnete mit dem Privatfernsehen und allerdings auch mit der Regierung Kohl ab, weil sie die kommerziellen Sender gewollt und damit eine äußerst verhängnisvolle Entwicklung eingeleitet habe. Zwar habe man sich eine Erhöhung der Meinungsvielfalt, eine Stärkung der Urteilskraft der Bürger sowie einen Informations- und Meinungsaustausch über die Grenzen hinweg von der Einführung des Privatfernsehens versprochen. Aber heute sei nur noch der "Bankrott der hehren Absichten" zu konstatieren: "Statt Vielfalt der Meinungen produzieren die flotten Kanäle Einfalt der Unterhaltung - mit beängstigender Beschleunigung". Dies alles seien "Symptome einer Gesellschaft, welcher der Kompaß abhanden gekommen ist, die keine neuen Lebensentwürfe mehr wagt, nur noch den atemlosen Wechsel kennt zwischen Brot und Spielen, Ökonomie und Unterhaltung, Standort-Wahn und Flucht in den Wahn".[15]

 

Vor diesem Hintergrund schreibt der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Brezinka über die Folgen, die diese gesellschaftliche Wirklichkeit im Hinblick auf die Bedingungen der Persönlichkeitsentwicklung des Nachwuchses hat, also zu den gesellschaftlichen Sozialisationsbedingungen: "Nie zuvor ist der Abstand zwischen dem Geburtszustand der Kinder und den Persönlichkeitseigenschaften lebenstüchtiger Erwachsener so groß gewesen wie in unserer Zeit. Nie zuvor haben Kinder so viel lernen und umlernen müssen, bis sie zur selbständigen Lebensführung im Einklang mit dem Wohl ihrer Mitmenschen fähig sind. Nie zuvor hat es auf diesem Weg so viele Möglichkeiten gegeben, sich zu verirren und Schaden zu nehmen. Deshalb ist der Nachwuchs mehr als früher auf gute Erziehung angewiesen".

 

Die Voraussetzungen für eine gute Erziehung aber seien gegenwärtig sehr ungünstig. Gerade in einer Zeit, in der die Jugend länger brauche, um selbständig zu werden, und mehr Gefahren ausgesetzt sei als früher, mangele es in vielen Lebensräumen an guter Sitte, an gemeinsamen Lebensidealen und an übereinstimmenden Anforderungen. "Unser Nachwuchs findet einen Zeitgeist vor, der moralisch kraftlos, unentschieden und nachgiebig ist. Er wächst unter Menschen auf, die über ihre Ideale unsicher sind oder die meinen, ohne Ideale auskommen zu können. Er lebt in einer Gesellschaft, die nach dem Zeugnis ihrer führenden Denker in einer schweren Orientierungskrise steckt, deren Ausgang ungewiß ist".

 

Die Orientierungskrise sei letztlich eine Krise der Wertorientierung, eine Krise der Überzeugung von dem, was Wert hat, was anzustreben und was abzulehnen, was höher und was niedriger zu bewerten, was vorzuziehen und was zurückzustellen ist. "Sie äußert sich bei den einzelnen Menschen durch Unsicherheit des Wertbewußtseins und der Werteinstellung. Sie äußerst sich beim Zusammenleben durch Uneinigkeit über die grundlegenden Normen und über eine gemeinsame Rangordnung der Güter".

 

Jede Krise der Wertorientierung bewirke auch eine Erziehungskrise, schreibt Brezinka, denn Unsicherheit beim Werten führe auch zur Unsicherheit beim Erziehen. Eine wertunsichere Gesellschaft sei auch eine erziehungsunsichere Gesellschaft. "Das ergibt sich aus der einfachen Tatsache, daß niemand erziehen kann, ohne zu werten. Erziehung setzt Entscheidungen voraus. Wer erzieht, muß wissen, was er will. Er braucht Erziehungsziele, und er muß Mittel wählen, durch die sie erreicht werden können. Die Ziele oder Zwecke der Erziehung sind die Persönlichkeitseigenschaften, die er in den zu-erziehenden Personen fördern will".

 

Daraus folgert er, daß sich die Erziehungskrise unserer Zeit nicht überwinden lasse, ohne die Wertungskrise, die weltanschauliche Krise, die moralische Krise zu überwinden, in der viele Menschen gegenwärtig steckten. "Es fehlt an Wertungsgemeinschaften, die den Glauben an eine tragfähige Weltdeutung und an uneigennützige gemeinsame Ideale vermitteln und stärken. Es fehlt an der Kraft, sich selbst an solche Glaubensinhalte zu binden und den Nachwuchs für die gleichen Bindungen zu gewinnen. Die Wertungskrise und Bindungsscheu sind die Wurzeln der heutigen Erziehungskrise".[16]

 

Die Überwindung der Erziehungsvergessenheit und Erziehungsunsicherheit hat also eine Überwindung der Wertunsicherheit zur Voraussetzung. Erst wenn die Mehrheit unserer Gesellschaft sich wieder eindeutiger für bestimmte Werte entscheidet und in diesem Sinne wieder entschiedener sein wird als gegenwärtig, wird sich auch die Überzeugung von der Notwendigkeit von Erziehung und die daraus resultierende Erziehungsbereitschaft und Konsequenz in der Erziehung wieder erhöhen.

 

Ich habe vorhin den Begriff "Erziehungsvergessenheit" gebraucht, meine damit aber in erster Linie "Sozialisationsvergessenheit" im Sinne mangelnder Rücksichtnahme unserer Gesellschaft auf ihre sozialisatorische Einwirkung auf die Persönlichkeitsentwicklungsprozesse der Kinder und Jugendlichen in ihrer Mitte.

 

Damit komme ich zu der wichtigen, aber in der öffentlichen Bildungs- und Erziehungsdebatte kaum beachteten Unterscheidung zwischen Erziehung und Sozialisation. Die sozialisationstheoretische Perspektive legt großen Wert auf diese Unterscheidung. In dieser Perspektive besteht die wichtigste Aufgabe der Eltern nicht primär in der Beherzigung und Anwendung möglichst vieler einzelner Erziehungsratschläge und -maß-nahmen, sondern in der Gestaltung des Familienklimas. Denn das Klima prägt den jungen Menschen – aufgrund des kindlichen Imitations- und Anpassungsbedürfnisses – viel stärker und nachhaltiger als die ihm direkt zuteil werdende Erziehung.

 

Die damit kurz angedeutete wichtige Unterscheidung zwischen Sozialisation und Erziehung wird in unserer Gesellschaft kaum beachtet. Ihre Vernachlässigung hat weitreichende Folgen. Der Begriff "Sozialisation" ist vielen nicht geläufig, selbst vielen Pädagogen nicht. Nicht wenige sehen in ihm einen zu bekämpfen Begriff der Linken, der sich gegen den Begriff "Erziehung" richte und eine kollektive Erziehung befürworte.

 

 

Zur Unterscheidung von "Sozialisation" und "Erziehung"

und zu den Folgen ihrer Vernachlässigung

 

In Wahrheit sind "Sozialisation" und "Erziehung" keine Gegensätze. Sie stehen nicht in Konkurrenz zu einander und schließen sich durchaus nicht gegenseitig aus. Vielmehr beziehen sie sich auf unterschiedliche Aspekte. Dabei muß aber von vornherein betont werden, daß der Begriff "Sozialisation" nicht nur der umfangreichere ist, sondern auch der gewichtigere. Denn die Sozialisationseinflüsse auf die Persönlichkeitsentwicklung sind erheblich tiefgreifender und nachhaltiger als die Erziehungseinflüsse. Worin unterscheiden sich die beiden Begriffe? Eine kurze Begriffsklärung ist unerläßlich.

 

Die Besonderheiten des Sozialisationsbegriffs lassen sich am besten durch eine Abgrenzung vom Begriff des Lernens einerseits und von dem der Erziehung andererseits verdeutlichen. Sie unterscheiden sich einerseits hinsichtlich ihres Bedeutungsumfangs. Der Begriff Lernen hat den größten Bedeutungsumfang, der Begriff Erziehung den geringsten. Dazwischen liegt der Bedeutungsumfang des Begriffs Sozialisation.

 

·         "Lernen" steht für die Aneignung von Kenntnissen und die Veränderung von Verhaltensweisen aufgrund von Lernerfahrungen in allen Lernfeldern des menschlichen Lebens. Lernverfahren sind in der Hauptsache Ausprobieren, Versuch und Irrtum und bewußtes Üben. Die Motivation zum Lernen kommt entweder aus der Sache selbst, aus einem Interesse an der Sache (intrinsische Motivation) oder aus "sachfremden Beweggründen" (extrinsische Motivation): etwa um die durch Lernen erworbenen Sachkenntnisse (beruflich oder sonstwie) anwenden zu können.

 

·         "Sozialisation" steht dagegen für die Aneignung und Veränderung von Einstellungen und Verhaltensweisen in sozialen Lernfeldern durch Umgang mit Menschen und Anpassung an ihre Einstellungen und Verhaltensweisen, teils beabsichtigt, größtenteils unbeabsichtigt. Sozialisation ist Lernen durch Nachahmung von Vorbildern und Identifikation mit ihnen sowie durch Teilnahme an Kommunikationsprozessen, teils direkt, teils indirekt. Hier ist insbesondere auf die sozialisatorische Wirkung der Massenmedien hinzuweisen.

 

Die Motivation zum Lernen durch Anpassung ist eine doppelte: einerseits (und am frühesten wirksam) der naturgegebene (vor allem beim Kleinkind wirksame) Nachahmungstrieb, andererseits der (später wirksam werdende) Wunsch nach Bejahung, Anerkennung und Zugehörigkeit, die Angst vor Isolation als Triebfeder zu Anpassung und Angleichung an die soziale Umwelt (im positiven wie negativen Sinn der Bedeutung von "Anpassung"). Die Sozialisationsresultate sind größtenteils nicht direkt beabsichtigt, sondern eher (unvermeidbare) "Nebenprodukte" sozialer Erfahrungen (Prägungen und Anpassungen).

 

·         "Erziehung" bezeichnet in der heute weithin üblichen Abgrenzung von Sozialisation alle intentionalen Maßnahmen, also alles, was in erzieherischer Absicht geschieht, während der Sozialisationsbegriff die - im Medienzeitalter in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzenden - nicht intentionalen, unkontrollierten Einwirkungen auf die Einstellungen und Verhaltensweisen (vor allem) junger Menschen bezeichnet. Weil die nicht beabsichtigten Einwirkungen insbesondere durch die Massenmedien heute in den meisten Fällen wirkmächtiger und nachhaltiger wirksam sind als die in der Erziehung (wenn sie denn überhaupt stattfindet) beabsichtigten, ist die begriffliche Unterscheidung von Sozialisation und Erziehung so bedeutsam.

 

In der "Einführung in die Sozialisationstheorie" von Klaus Hurrelmann heißt es: "Erziehung ist ein begriffslogisch dem Begriff Sozialisation untergeordneter Begriff, der die Handlungen und Maßnahmen bezeichnet, durch die Menschen versuchen, auf die Persönlichkeitsentwicklung anderer Menschen Einfluß zu nehmen, um sie nach bestimmten Wertmaßstäben zu fördern. Erziehung bezeichnet nur einen Teil derjenigen gesellschaftlich vermittelten Einflüsse auf die Persönlichkeitsentwicklung, die unter den Begriff Sozialisation fallen, nämlich die bewußten und geplanten Einflußnahmen".[17]

 

Beim Begriff Erziehung sind zwei Aspekte zu unterscheiden: ein passiver (Erzogenwerden) und ein aktiver (Erziehen). Erziehung im passiven Sinne von Erzogenwerden bedeutet bewußte Verhaltensänderung durch Befolgung ("Beherzigung") von Anleitungen, die Heranwachsenden von Erwachsenen in erzieherischer Absicht gegeben werden und sich (bei guter Erziehung) an die Einsicht (Folgsamkeit bzw. Vernunft) des Heranwachsenden richten (im Unterschied zur Gehorsamsforderung ohne Begründung als einer negativen Form von "Erziehung"). Erziehung im aktiven Sinn von Erziehen bezeichnet nach Helmut Fend "Maßnahmen, die Erwachsene in Interaktion mit Heranwachsenden veranlassen, um Lernvorgänge hervorzurufen, die zu wünschenswerten Ergebnissen führen".[18]

 

Der Aspekt der Intentionalität von Erziehung kommt in der folgenden Definition des Erziehungswissenschaftlers Wolfgang Brezinka besonders deutlich zum Ausdruck: "Unter Erziehung werden Handlungen verstanden, durch die Menschen versuchen, das Gefüge der psychischen Dispositionen zu verbessern oder seine als wertvoll beurteilten Bestandteile zu erhalten oder die Entstehung von Dispositionen, die als schlecht bewertet werden, zu verhüten".[19]

 

Schließlich sei zur Verdeutlichung des wichtigen und in der öffentlichen Debatte viel zu wenig beachteten Unterschieds von Sozialisation und Erziehung noch auf den Zweiten Familienbericht der Bundesregierung von 1975 Bezug genommen. Er trug den Untertitel "Familie und Sozialisation" und war unter der Fragestellung abgefaßt, wie es um die familialen Sozialisationswirkungen bestellt sei und welche Möglichkeiten zu deren Verbesserung es gebe. Darin begründen die Mitglieder der Sachverständigenkommission (darunter die spätere Familienministerin Ursula Lehr, der Sozialisationsexperte Friedhelm Neidhardt und der Erziehungswissenschaftler Franz Pöggeler), weshalb die Kommission es in aller Regel vorgezogen habe, "von Sozialisation anstatt von Erziehung und von Sozialisationszielen anstatt von Erziehungszielen zu sprechen". Die Begründung lautet:

 

"Der Begriff der Erziehung bezeichnet nach dem herkömmlichen Sprachgebrauch die gezielte Einwirkung auf das Kind. Demgegenüber ist geltend zu machen, daß die Entwicklung des Kindes, sein Lernen von Gefühlen, Kenntnissen, Motivationen und Wertorientierungen keineswegs nur von ausdrücklich beabsichtigen Impulsen seiner Erzieher beeinflußt wird". Gegenüber dem noch umfassenderen Lernbegriff, so heißt es weiter, habe der Sozialisationsbegriff den Vorteil, "den spezifisch sozialen Charakter von Lernerfahrungen zu betonen und dabei die gesellschaftlichen Bedingungen der Lernerfahrungen gezielt zu erfassen. Lernen erscheint als Sozialisation dadurch, daß die Lernfelder als Systeme sozialer Beziehungen gedeutet werden und der Lernende als Teilnehmer an Kommunikationsprozessen betrachtet wird (...). Sozialisation ist in diesem Sinne das durch die soziale Umwelt vermittelte Lernen von Verhaltensweisen, von Denkstilen, Gefühlen, Kenntnissen, Motivationen und Werthaltungen".[20]

 

Die Begriffe "Lernen", "Sozialisation" und "Erziehung" unterscheiden sich nicht nur im Bedeutungsumfang, sondern auch hinsichtlich der Lerninhalte bzw. der Lernergebnisse. Diese Unterscheidung macht deutlich, daß die beiden Begriffe weder miteinander "konkurrieren", noch sich gegenseitig ersetzen können, weil sie sich auf grundverschiedene Inhalte beziehen. Ergebnisse von Lernprozessen sind erlernbare Kenntnisse und Fertigkeiten, die im Begriff Sachkompetenz(en) zusammengefaßt werden können. Die Lernprozesse erfordern nicht unbedingt einen sozialen Kontext. Ergebnisse von Sozialisationsprozessen (Sozialisationsresultate) dagegen sind durch Verarbeitung von Sozialerfahrungen (Identifikationen und Anpassungen) in Kommunikationsprozessen erworbene Einstellungen und Fähigkeiten, die im Begriff Sozialkompetenz (unterteilt in kommunikative, soziale und moralische Kompetenz) zusammenfaßt werden können.

 

Eines der entscheidenden Ergebnisse eines erfolgreichen Persönlichkeitsentwicklungsprozesses ist eine "sozial verträgliche Handlungskompetenz", verstanden als "Fähigkeit zur selbständigen Lebensführung in Übereinstimmung mit dem Wohl der Mitmenschen".[21] Sie ist das Resultat einer Kombination aus Lernergebnissen, Sozialisations- und Erziehungsresultaten, eine sozial verträgliche Mischung aus Fachkompetenz (Lernergebnisse) und Sozialkompetenz einschließlich moralischer Kompetenz (Sozialisationsresultate).

 

Diese Kombination ist nicht selbstverständlich. Es gibt idealtypisch zwei Extremformen: einerseits das nahezu völlige Fehlen von Sachkompetenz bei gleichzeitig hochgradig ausgeprägter Sozial- und Kommunikationskompetenz (den "sympathischen Taugenichts") und andererseits eine hochgradige Sachkompetenz, womöglich auf einem sehr begrenzten Gebiet ("Fachidiot"), bei gleichzeitig nahezu völlig fehlender Sozial- und Kommunikationskompetenz ("unsympathischer Könner"). In beiden Fällen ist "sozial verträgliche Handlungskompetenz" nicht oder nicht ausreichend gegeben.

 

Im Unterschied zu diesen beiden Einseitigkeiten stellt die "sozial verträgliche Handlungskompetenz" eine Mischung aus beiden Kompetenzbereichen dar (mit durchaus unterschiedlicher Akzentuierung).

 

 

Folgrungen der bisherigen Ausführungen

für die aktuelle Bildungsdebatte

(Thesen und Erläuterungen)

 

1. Die Bildungsdebatte in unserer Gesellschaft muß endlich die schulische Wirklichkeit so in den Blick nehmen, wie sie sich den Pädagogen alltäglich darbietet!

 

Erläuterung: Seit der Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse kann niemand mehr bestreiten, daß es in Deutschland um die Bildung schlecht bestellt ist. Knapp zehn Prozent der 15-jährigen Schüler in Deutschland werden in ihr als "funktionale Analphabeten" eingestuft. Weitere 13 Prozent können bestenfalls auf einfachstem Grundschulniveau lesen. Diese insgesamt 23 Prozent hat PISA als "potentielle Risikogruppe" eingestuft.

 

Aber es gibt nicht nur die PISA-Ergebnisse, sondern auch eine ganze Reihe geradezu vernichtender Urteile über die schulische Wirklichkeit und insbesondere auch über die heutigen Schüler, die mit ihrer Persönlichkeitsstruktur viel zu selten in den Blick genommen werden. So heißt es etwa bei dem Bildungskritiker Dietrich Schwanitz über den Zustand deutscher Schulen: "Die Schulen sind in einem so jämmerlichen Zustand, daß das Elend völlig unbekannt bleibt, weil sein Ausmaß unglaublich ist".

 

Den Vertretern der Kulturbürokratie wirft er Aufrechterhaltung von Fiktionen, Leugnung der Realität und Ignorieren des Offensichtlichen vor. Selbst vor der Geheimhaltung wissenschaftlicher Untersuchungen zum Leistungsvergleich der Schulen scheuten sie nicht zurück. "Deshalb gibt es das Paradox. Fast nirgendwo wird so viel gelogen wie in der Bildungs- und Schulpolitik", schreibt er.

 

Sein ganzes Mitgefühl gilt den Lehrpersonen, die unter diesen schulischen Bedingungen die heutigen Schülern zu erfolgreicher Bildung verhelfen sollen und dabei von der Gesellschaft nicht nur nicht unterstützt, sondern sogar unterschwellig verachtet werden, wie er schreibt. "Aber die Verachtung ist ungerecht gegenüber einem Job, den selbst ein gewiefter Manager oder ein nervenstarker Unternehmer kaum einen Morgen lang durchstehen würde, ohne an Flucht zu denken: Nämlich eine Horde lernunwilliger, ungezogener, an Fernsehunterhaltung gewöhnter Bestien für die Erhabenheit des deutschen Idealismus zu interessieren, während diese nichts anderes im Sinne haben, als Attacken auf die Würde des Lehrer zu organisieren. Von diesem täglichen Kampf gegen die schiere Unverschämtheit, die sadistische Bösartigkeit und die seelische Roheit macht sich außerhalb der Schule niemand eine Vorstellung. Und das Abgefeimteste ist: Der Lehrer muß sich die Ungezogenheit und Ruppigkeit seiner Schüler auch noch selbst zurechnen lassen: er ist selbst daran schuld; er hat seine Klasse nicht im Griff, sein Unterricht törnt die Kids nicht an, im Gegenteil, sie fühlen sich angeödet. Man möchte mal sehen, wie man mit Goethes 'Iphigenie' die Kids antörnen soll: Ein Mindestmaß an Zivilisiertheit der Kinder wird als selbstverständliche Mitgift des Elternhauses gar nicht mehr erwartet. Ihr Verhalten wird allein aus dem Unterricht erklärt, während sie in Wirklichkeit an Konzentrationsschwäche und Erziehungsdefiziten aus dem Elternhaus leiden".[22]

 

Unsere Bildungsdebatte nimmt diese Schüler mit erheblichen Erziehungsdefiziten kaum zur Kenntnis. In den Verlautbarungen der Kultusbürokratie kommen diese "neuen Schulkinder" nicht vor. Sie gehen von der Fiktion aus, Schüler seien heute wie eh und je.

 

Immerhin hat die im vergangenen Jahr veröffentlichte Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland mit dem Titel "Maße des Menschlichen. Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft" diese "neuen Kinder" mit folgenden Formulierungen in den Blick genommen: "Es gibt junge Menschen, die in ihrer Kindheit nicht in 'haltenden Bewegungen' aufwachsen konnten, um stabile seelische Strukturen wie Ich-Identität und Selbstwertgefühl auszubilden. Bildung betriff wesentlich auch diese persönliche seelische Innenseite, die nicht übersehen werden darf. 'Selbstverantwortlichkeit' ist ein schönes Wort, aber ein Fiktion hinsichtlich junger Menschen, die kein 'Selbst' in Gestalt eines sie tragenden, Lebenszuversicht verleihenden Selbstwertbewußtseins entwickeln konnten. Zu den Ich-Funktionen, die für Gemeinschaftsfähigkeit elementar wichtig sind, gehören ferner Gewissen und Empathie für andere. Ohne ein positives Gefühl für den eigenen Wert ist man aber innerlich nicht frei genug, sich in andere einzufühlen und von ihnen her zu denken und zu handeln. An den extremen Rändern kann im Gegenteil die schwache Ich- und Gewissensbildung plötzlich zusammenbrechen; Jugendliche agieren dann mit Depression oder mit Gewalt und wollen in erschreckender, negativ gewendeter Verkehrung zeigen, daß sie doch noch jemand sind. Wer 'Bildung' will, ist folglich auf die Sozialisations- und Erziehungsaufgaben verwiesen, die den kognitiven Bildungsleistungen voraufgehen und sie begleiten müssen".[23]

 

Das "neue Schulkind" ist insbesondere von dem Pädagogen und Schriftsteller Horst Hensel zum Thema gemacht worden. Er charakterisiert es in seinem Buch "Die neuen Kinder und die Erosion der Alten Schule" wie folgt:

 

"Es ist häufiger ein Junge als ein Mädchen. Die Eltern des Kindes sind geschieden. Es hat keine Geschwister und lebt bei der Mutter. Familienerziehung hat es nie erfahren. Es erinnert sich, daß Familie Streit, auch männliche Gewalt und Alkoholmißbrauch bedeutet. Geld ist knapp. Die Mutter kümmert sich nicht um ihr Kind. Täglich sieht es viele Stunden fern. Der Konsum von Sex-Filmen und auch pornographischen Filmen ist ihm nicht fremd. Sein Frauenbild - wenn es ein Junge ist -, seine Vorstellungen und Sexualität und Liebe bilden sich bei RTLplus. Horror- und Action-Filme sind seine tägliche Zerstreuung. Das Kind bleibt abends lange auf und ist morgens müde. Nicht selten kommt es zu spät zur Schule. Nicht selten hat es nicht gefrühstückt, hat es keine Pausenbrote mit. Die Hausaufgaben hat es nicht oder nur zum Teil gemacht. Lernergebnisse, die durch Memorieren erfolgen und zu sichern sind, sind ihm nicht abzuverlangen (...). Den Unterricht findet es langweilig, und das sagt es den Lehrkräften auch, und zwar vor, während und nach dem Unterricht, ruft in die Klasse hinein, hält keine Regeln des Umgangs ein (...). Gelegentlich entscheidet es sich, nicht mehr mitzuarbeiten, packt seine Tasche eine Viertelstunde vor Unterrichtsende und sagt: Ich habe keine Lust mehr. Es sehnt sich nach Anerkennung und hat gar nicht vor, faul zu sein oder sich asozial zu verhalten; es ist nur so, daß es nicht anders kann, daß es sich nicht steuern kann, daß es jeder Empfindung sofort nachgeben muß. Was es tut, muß Spaß machen und leicht sein. Es prügelt sich, wenn es im Ausleben seiner Individualität behindert wird - als Junge häufiger denn als Mädchen. Seine Noten sind ausreichend bis mangelhaft. Seine Schrift ist kaum zu entziffern. Später will es viel Geld verdienen".

 

Dieser "Typus Kind" scheine in verschiedenen Schattierungen und Abstufungen "nach und nach der 'Haupttyp' zu werden", was zu der Schlußfolgerung führe, "daß entweder die Mehrzahl oder eine dominierende Minderheit der Kinder der Eingangsstufe weder sozial erzogen noch schulreif ist". Damit sei die Schule vor die Aufgabe gestellt, "sich die Voraussetzungen zu ihrer Arbeit - erzogene und schulfähige Kinder - selbst zu schaffen, da Familie und Gesellschaft dies nicht mehr leisten".[24]

 

In der Bildungsdebatte kommt dieses "neue Schulkind" kaum vor. Auch die deprimierenden Erfahrungsberichte aus dem pädagogischen Alltag kommen darin kaum vor, etwa der von Marga Bayerwaltes, einer ehemaligen Gymnasiallehrerin, in ihrem Buch "Große Pause. Nachdenken über Schule".[25] Es ist ein sehr deprimierendes Buch hinsichtlich der dort geschilderten schulischen Wirklichkeit heute. Trotzdem ist es empfehlenswert, weil es den Blick für die Wirklichkeit öffnet. Marga Bayerwaltes war offenkundig eine sehr engagierte Lehrerin für die Fächer Deutsch und Philosophie. Weil sie sich völlig ausgebrannt fühlte, beschloß sie zunächst, sich ein "Sabbatjahr" genehmigen zu lassen, um Kraft zu schöpfen und Abstand zu gewinnen. In diesem Sabbatjahr hat sie sich ihren Schulfrust von der Seele geschrieben, und dies auf eine Art, die niemanden gleichgültig läßt. Als das Sabbatjahr sich dem Ende zuneigte, beschloß sie nach hartem Ringen mit sich selbst, nicht wieder in den Schuldienst zurückzukehren.

 

Der Unterricht, so beklagt sie, bestehe "oft zu achtzig Prozent aus nichts anderem als dem vergeblichen Versuch des Lehrers, für Ruhe zu sorgen". Und die persönliche Erfolgbilanz der sehr engagierten und bei den Schülern offensichtlich beliebten Lehrerin lautet so: "Mein Unterricht bringt überhaupt nichts. Man könnte ihn genauso gut einstellen. Nach drei Jahren Deutschunterricht entließ ich die Schüler genauso, wie ich sie in Stufe 11 bekommen hatte. Wer 'gut' war, blieb es, wer 'schlecht' war, blieb es auch. Nie gelang es einem schwachen Schüler, sich nennenswert zu verbessern, oder mir, ihm zu besseren Leistungen zu verhelfen oder nur seine Einstellung ein ganz klein wenig zu verändern. Wer mir in der ersten Stunde sagte, daß er Kafka Scheiße fände, fand das auch noch nach meiner Unterrichtsreihe oder vielleicht sogar jetzt erst recht: Der ist doch krank, der Typ! Gedichte, egal welcher Art und Epoche, waren und blieben total hirnrissig. Ein Gefühl oder ein Kriterium für einen ästhetisch schönen oder logisch klaren oder ethisch überzeugenden Text habe ich keinem meiner Schüler, der es nicht schon mitbrachte, vermitteln können. Vor allem nicht in Bezug auf ihre eigenen Texte. Sie verstehen nie, was sie falsch gemacht hatten, wieso ein Ausdruck unpassend, eine Argumentation nicht stringent oder eine Haltung verantwortungslos genannt werden konnte. Das sehe ich eben anders, sagten sie, da haben wir eben 'ne verschiedene Meinung.

 

Es war, als wäre die entscheidende Prägezeit ein für allemal vorbei. Dieselben Fehler wurden von denselben Schülern drei Jahre lang bis in die Abiturklausur hinein immer wieder gemacht.

 

Und dabei mochten wir uns ganz gern. Ich mochte sie, diese Jungs mit ihren verkehrt herum aufgesetzten Baseballkappen, die am liebsten Kfz-Mechaniker oder Koch geworden wären, und die Mädchen, die was mit Kindern oder Behinderten werden wollten, aber meinten, sie bräuchten dafür unbedingt das Abi (sonst krieg ich doch noch nicht mal 'ne Lehrstelle). Ich mochte sie, und sie taten mir leid. Ich hätte sie liebend gern mit deutscher Grammatik und vor allem mit der schöngeistigen Literatur verschont.

 

Einer meiner Schüler sagte einmal zum Abschied zu mir die aus einem ehrlichen Herzen kommenden Worte: Nee, tut mit Leid, interessant fand ich das echt nicht, was wir hier die ganze Zeit gemacht haben. Aber ich muß sagen, es hat mir imponiert, wie Sie sich für so was Sinnloses so tierisch begeistern können".[26]

 

 

2. Unsere Gesellschaft muß ihren Bildungsbegriff erheblich ausweiten. Die gegenwärtige Vernachlässigung der Persönlichkeitsentwicklungsgesichtspunkte in der Bildungsdebatte muß überwunden werden!

 

Erläuterung: Die gegenwärtige Bildungsdebatte krankt tendenziell an einer Überbewertung der Bedeutung des Intellekts und der Wissensvermittlung im Bildungsprozeß und an einer Vernachlässigung der charakterlichen Voraussetzungen erfolgreicher Bildungsprozesse. Jeder erfahrene Pädagoge weiß, daß erheblich mehr Schüler an ihren Charaktereigenschaften, insbesondere an einem Mangel an Disziplin in der Lebensführung, scheitern als an einem Mangel an Intelligenz. Die Bildungsdebatte blendet diesen nur allzu bekannten Tatbestand weitestgehend aus. Sie geht von der Fiktion gegebener Schulfähigkeit aus und will nicht wahrhaben, daß ein nicht unerheblicher Teil der heutigen Schüler aufgrund erheblicher Persönlichkeitsentwicklungsdefizite, die sich dann als charakterliche Defizite bemerkbar werden, im Prinzip nicht schul- und bildungsfähig ist.

 

Es gibt darüber hinaus in der gegenwärtigen Bildungsdebatte eine Tendenz zur Überschätzung der Bedeutung von Struktur- und Finanzfragen für den Bildungserfolg. Auch sie muß überwunden werden!

 

Ohne prinzipiell zu bestreiten, daß etwa die Klassengröße Einfluß auf den Lernerfolg des einzelnen Kindes nimmt bzw. nehmen kann, ist festzustellen, daß die Bedeutung dieses Einflußfaktors heute weit überschätzt wird. Wirklich bildungsfähige, das heißt neugierige, interessierte, motivierte, konzentrationsfähige und leistungswillige Schüler können nahezu unter allen Umständen lernen. Auch die Bedeutung technischer Hilfsmittel der Informationsvermittlung wie Computer und Internet wird heute tendenziell erheblich überschätzt.

 

Bildung bedeutet nicht in erster Linie Informationsvermittlung bzw. –aneignung, sondern Verarbeitung von Information zu wirklichem Wissen und damit zur "Aneignung von Welt" in kommunikativen Prozessen mit dem Ergebnis eines besseren Verstehens der Welt und des Menschen in ihr sowie eines besseren Zurechtkommens in ebendieser Welt.

 

Bundespräsident Johannes Rau hat in seiner Rede auf dem Kongreß "Wissen schafft Zukunft" des "Forums Bildung" im Juli 2000 für eine Erweiterung des Bildungsbegriffs im Sinne ganzheitlicher Bildung plädiert. Darin heißt es:

 

"Wir sollten Bildung wieder stärker ganzheitlich verstehen. In der Bildung vergewissern wird unserer selbst und finden unsere Identität. Bildung ist, wie jede Kultur, die menschliche Form der Weltaneignung und zugleich ihr Ergebnis. Zur Bildung gehören die Vorstellungen und Einstellungen, die Fähigkeiten, die Kenntnisse und die Gewohnheiten, die es dem Menschen ermöglichen, die Welt selbstbestimmt und verantwortlich zu gestalten...

 

Wir dürfen Bildung nicht darauf beschränken, junge Menschen auf den Beruf und den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Wer ausschließlich vom 'Bedarf' her denkt, hat schon verfehlt, was mit Bildung eigentlich gemeint ist. Ziel der Bildung ist nicht zuerst die Befähigung zum Geldverdienen. Bildung schielt und zielt nicht auf Reichtum. Aber sie ist ein guter Schutz vor Armut. Vielleicht sogar der wirksamste.

 

Bildung ist auch etwa anderes als Wissen. Wissen läßt sich büffeln, aber Begreifen braucht Zeit und Erfahrung...

 

Selbständig und frei denken zu lernen: darum geht es nach wie vor. Wer nicht denken gelernt hat, der kann diesen Mangel durch noch so viele Informationen nicht ersetzen, auch nicht durch modernste technische Hilfsmittel. Denken und Verstehen: das hat zu tun mit dem ganzen Menschen, mit Leib und Seele, mit Herz und Verstand. Denken und Verstehen: das hat zu tun mit analytischen Fähigkeiten und Phantasie, mit Einfühlungsvermögen und mit der Fähigkeit, sich neue Welten zu erschließen. Denken und Verstehen: das bedeutet, Orientierung zu suchen, Orientierung zu haben und Orientierung geben zu können in einer Welt, die uns mit immer neuen und immer mehr Einfällen, Eindrücken und Einsichten überhäuft".

 

Als die drei bleibenden Ziele von Bildung nannte Rau in seiner Rede:

 

- die Entwicklung der Persönlichkeit

- die Teilhabe an der Gesellschaft

- die Vorbereitung auf den Beruf.

 

Sie stünden nicht unverbunden nebeneinander. Vielmehr führten die Herausforderungen des technischen und sozialen Wandels dazu, "daß sich diese drei Hauptziele immer stärker gegenseitig bedingen und wechselseitig ergänzen. Wir wissen, daß auch für den Erfolg im Beruf die Persönlichkeit und die Gemeinschaftsfähigkeit eine weit größere Rolle spielen, als wir das lange Zeit glauben wollten. Wir brauchen Menschen, die nicht nur darauf aus sind, die eigene Persönlichkeit zu entfalten und zu verwirklichen, sondern die bereit  und in der Lage sind, Verantwortung für andere zu übernehmen".[27]

 

Ähnlich argumentiert Jürgen Mittelstraß. Für ihn ist Bildung "die andere Seite der Kultur, Kultur zur Lebensform, auch zur individuellen Lebensform gemacht. Und wie Kultur nichts ist, das einfach wächst, das einfach da ist, sondern etwas, das wir herstellen, indem wir uns im Medium von Finden, Erfinden und Gestalten bewegen, so auch im Falle der Bildung. Bildung, mit jener Kultur verbunden, die das Wesen der modernen Welt ausmacht, ist selbst ein tätiges, reflektiertes und interagierendes Leben. In ihr wird Kultur (individuell) angeeignet. Bildung ist daher in erster Linie nichts Theoretisches, sondern ein Können und eine Lebensform, kein bloßes Sich-Auskennen in Bildungs- oder Wissensbeständen. Wilhelm von Humboldt hat noch immer Recht. Für ihn ist der Gebildete derjenige, der 'so viel Welt, als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nun kann, mit sich zu verbinden' sucht. Daher schließt der Begriff der Bildung im klassischen wie im modernen Sinne eben auch den Begriff der Orientierung ein. Orientierung (...) ist selbst etwas Konkretes, nichts Abstraktes wie Theorien oder die Art und Weise, wie wir Theorien weitergeben. Der Ort der Orientierung ist die Lebenswelt, nicht die begriffliche, die theoretische Welt. Nicht der Theoretiker und nicht der Experte sind diejenigen, die Orientierungsfragen beantworten, sondern derjenige, der lebensformbezogen die geheimnisvolle Grenze zwischen Wissen und Können, Theorie und Praxis überschritten hat. Ebendas gilt auch für Bildung. Bildung und Orientierung gehören strukturell zusammen, und zwar nicht so sehr in Wissenschaftsform, sondern in Lebensform bzw. in Form eines Könnens, das (mit Humboldt) Welt in sich zieht und Welt durch sich selbst ausdrückt, orientierenden Ausdruck verleiht. Noch anders formuliert: Bildung ist - bezogen auf gegebene Wissens- und Erfahrungsbestände und den gekonnten, orientierenden Umgang mit diesen - das Universale, im Partikularen ausgedrückt."

 

Es gehe, mit Humboldt, "um ein tätiges Begreifen der Welt; es geht entgegen einer im Wesentlichen ökonomisch bestimmten Vorliebe des Zeitgeistes für ein geteiltes Ich, zum Beispiel ein in privates, gesellschaftliches und ein Konsumenten-Ich geteiltes Ich, um die Wiederherstellung eines ungeteilten Ich; und es geht darum, den Begriff des Wissens, über den sich eine Gesellschaft zu definieren beginnt, die notwendige Klarheit zu verschaffen. Ebendiese Klarheit scheint sich eigentümlicherweise heute aufzulösen".

 

Die moderne Gesellschaft schwanke in ihrem Selbstverständnis und in ihrer Beschreibung zwischen den Verheißungen einer Informationsgesellschaft und einer Wissensgesellschaft. Dabei drohe der Wissensgesellschaft paradoxerweise der Wissensbegriff verloren zu gehen.

 

Wo der Unterschied zwischen Wissen und Information verloren gehe, "werden im Medium der Information auch Wissen und Meinung ununterscheidbar. Meinung artikuliert sich in Informationsform wie Wissen; die Überlegenheit des Wissens gegenüber bloßer Meinung wird unkenntlich. Abbild der Informationswelt ist damit streng genommen auch eine Meinungswelt, keine Wissenswelt. Außerdem öffnet sich in einer Gesellschaft, die sich als Informationsgesellschaft versteht, eine unerwartete Nische für eine neue Dummheit, allerdings eine Dummheit auf hohem Niveau. Sie gibt sich nur dem Nachdenklichen zu erkennen und fällt im Übrigen deshalb nicht sonderlich auf, weil sie technologisch gesehen ungeheuer erfolgreich ist".

 

Wirkliche Bildung zeichne sich durch Nachdenklichkeit aus. Die Nachdenklichkeit sei ein "Geschwister des Beständigen". Nicht dass sie das Vergängliche aus dem Auge verliere; "aber sie folgt, auch in Sachen Wissen und einer mit dem Wissen verbundenen Orientierung, nicht den hektischen Bewegungen des Zeitgeistes (...). Achten wir daher auch darauf, daß der Triumph der Information nicht den Verlust des Wissens bedeutet, daß der Wert des Wissens nicht allein an dessen unmittelbarer Verwertbarkeit in sich schnell verändernden gesellschaftlichen Situationen und der Wert der Nachdenklichkeit nicht an deren (vermeintlicher) Weltferne gemessen werden. Denn der Kopf ist der Navigator, und der beste Navigator ist noch immer der wissende und nachdenkliche Kopf. Auch diese Einsicht ist ein Element der Bildung".[28] Soweit Jürgen Mittelstraß.

 

Wirkliche Bildung ereignet sich in der Hauptsache in einem kommunikativen Prozeß und ist somit immer auch und in erster Linie Begegnung zwischen Menschen. Deshalb sind Kommunikationskompetenz und soziale Kompetenz von großer Bedeutung, wahrscheinlich sogar viel ausschlaggebender als die Intelligenz eines Menschen. Diese Kompetenzen aber sind Sozialisationsresultate, die als Ergebnis der bisherigen Lebensgeschichte bereits gegeben sein müssen, wenn sich ein erfolgreicher Bildungsprozeß ereignen soll. Die Bildungseinrichtungen können Defizite in diesen Bereichen – und hier liegt wahrscheinlich das kaum thematisierte Hauptproblem unserer derzeitigen Bildungsmisere – nur sehr bedingt beheben. Denn Charaktereigenschaften können keine direkt anzusteuernden Lernziele sein.

 

 

3. Eine Bildungsdebatte, die auf der Höhe heutiger anthropologischer und sozialisationstheoretischer Erkenntnisse sein will, muß die Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung der Schüler, das heißt ihre Sozialisationsbedingungen und damit wesentliche Aspekte unserer Gesellschaft in den Blick nehmen!

 

Erläuterung: Die Bildungsdebatte darf die Augen nicht davor verschließen, wie viele Kinder heute unter extrem ungünstigen Sozialisationsbedingungen aufwachsen, so daß sie erhebliche Sozialisationsdefizite mit in die Schule bringen und dadurch mit einer schweren Hypothek belastet sind. Die gerade in Deutschland noch immer weit verbreitete Weigerung vieler Pädagogen, sich die sozialisationstheoretische Perspektive anzueignen – was nichts anderes bedeutet als ein Bemühen um Verstehen des kindlichen Verhaltens und Fehlverhaltens aus seiner Lebensgeschichte heraus -, muß überwunden werden.

 

Der Erziehungswissenschaftler Theodor Wilhelm hat bereits um die Mitte der siebziger Jahre für eine Ausweitung des pädagogischen Blickfeldes in den sozialen Raum hinein plädiert und die Pädagogen aufgefordert, sich den Erkenntnissen der Sozialisationsforschung zu öffnen und ihre Vorbehalte gegenüber dem Sozialisationsbegriff aufzugeben. Sie seien nicht nur unbegründet, sondern der Sozialisationsbegriff sei für die Pädagogen von großer Bedeutung. Denn er lege den Finger auf Sachverhalte, "die in der deutschen Pädagogik ganz ausgesprochen vernachlässigt worden sind". Sie brauche dringend "eine großzügige Ausweitung des Blickfeldes in den sozialen Raum hinein". Denn sie habe die bereits von Friedrich Wilhelm Förster beklagte "soziale Gedankenlosigkeit" noch immer nicht wirklich überwunden, stellte er Mitte der siebziger Jahre fest.

 

"Insofern Sozialisation einfach für die Tatsache steht, daß Überlegungen und Einwirkungsversuche, die sich auf den Menschen richten, ihn immer als ein in Gesellschaft befindliches, auf Gesellschaft angewiesenes und für das Wohl der Gesellschaft verantwortliches Wesen veranschlagen müssen, kann der Begriff von der Pädagogik nicht ernst genug genommen werden". Die deutsche Pädagogik müsse für jeden Hinweis dankbar sein, der ihr zum Bewußtsein bringe, "daß die Erziehungsbemühungen der Eltern und Lehrer nicht die einzigen Kräfte sind, die das Werden der jungen Generation bestimmen, sondern daß mit den Planungen der Pädagogen Wirkungskräfte konkurrieren, die unter Umständen eine viel größere Mächtigkeit besitzen als Schule und Elternhaus".

 

Schon immer, auch in der "guten alten Zeit", sei es so gewesen, "daß die bewußte und absichtliche Erziehung auf dem Untergrund eines breiten Stroms ungeplanter Formungs- und Prägungswirkungen erfolgte". Dieser "Untergrund" habe in der pädagogischen Theorie bisher wenig Beachtung gefunden. Habe sich dies in der Vergangenheit bereits zum Nachteil der Pädagogik ausgewirkt, so in der Gegenart noch mehr.

 

Denn "heute sind die Prägungsprozesse mächtiger geworden, weil sie mit den modernen Mitteln der Seelendirektion arbeiten. Die entscheidende Veränderung jedoch und derjenige Tatbestand, der diese prozessualen Unterströme dem Beobachter heute so deutlich zum Bewußtsein bringt, ist die diffuse Pluralität verschiedenartigster Wertorientierungen, die in der verweltlichten Gesellschaft heute ihren Einfluß geltend machen".

 

Den entscheidenden Unterschied zwischen "früher" und "heute" formuliert Wilhelm so: "'Früher' zogen die beabsichtigten und die unwillkürlichen Einflüsse am gleichen Strang, 'heute' laufen die formenden Beeinflussungen, die von den gesellschaftlichen Mächten ausgehen, oft der Absicht des Erziehers diametral entgegen". Er zitiert an dieser Stelle Eduard Spranger mit der Feststellung: "'Der Apparat, der vielfach funktionale Erziehung genannt wird, funktioniert also schlecht'". Der Sozialisationsbegriff, so folgert Wilhelm, sei zunächst ein Anstoß, "um der Pädagogik diesen Sachverhalt deutlich zum Bewußtsein zu bringen".

 

Der erste Gewinn, den sie aus der Auseinandersetzung mit dem Sozialisationsbegriff ziehe, bestehe in einer überfälligen Selbstbescheidung der Pädagogik selbst, aber auch der gesellschaftlichen Erwartungen an sie.

 

"Die Pädagogik wird daran erinnert, daß erstens Unterricht nicht die ganze Erziehung ist, daß zweitens absichtsvolle Erziehung nicht die einzige Weise der Einwirkung ist, und daß drittens die ich-bezogenen Gemeinschaftsvorstellungen, die in der deutschen Bildungsüberlieferung vorgeherrscht haben, für die Auslotung des sozialen Wirkungszusammenhanges, in dem der Mensch heranwächst, nicht ausreichen."[29]

 

 

4. Die sozialisationstheoretische Perspektive muß einen hohen Stellenwert in der öffentlichen Debatte erhalten! Der von Theodor Wilhelm damals in erster Linie an die Pädagogen gerichtete Appell ist heute auf die gesamte Gesellschaft auszuweiten!

 

Erläuterung: Die gesamte Gesellschaft braucht den "sozialisatorischen Blick", muß sich der Tatsache viel nachhaltiger, als das gegenwärtig der Fall ist, bewußt werden, daß sie für das Sozialisationsklima ihres Nachwuchses verantwortlich ist - jeder einzelne, und zwar unabhängig davon, ob er selbst Kinder hat oder nicht, und alle gemeinsam! - und daß sie maßgeblich die Sozialisationsresultate der nachwachsenden Kinder und Jugendlichen in ihrer Mitte bestimmt.

 

Damit unsere Gesellschaft ihrer sozialisatorischen Verantwortung besser als bisher gerecht werden kann, braucht sie die sozialisationstheoretische Perspektive, verstanden als Fähigkeit, die Persönlichkeitsbildungsprozesse ihres Nachwuchses in ihrer Ergebnisoffenheit und vielfältigen Gefährdung, kurzum in ihrer komplizierten Problematik zu betrachten und zu bewerten - und daraus entscheidende Folgerungen zu ziehen. Dafür muß sie wichtige Erkenntnisse der philosophischen Anthropologie (Plastizität als Stichwort) und der Sozialisationsforschung (Ergebnisoffenheit der Persönlichkeitsentwicklung als Stichwort) wirklich verinnerlichen, so daß sie das öffentliche Bewußtsein - im Unterschied zu heute - wirklich nachhaltig bestimmen.

 

Die sozialisationstheoretische Perspektive muß zu einer leitenden Kategorie der Gesellschaftsanalyse und Gesellschaftskritik, insbesondere auch der Medienkritik werden. An die Stelle der Frage, welche Einschaltquote eine Sendung erzielt, muß die nach ihrer sozialisatorischen Auswirkung treten, das heißt nach ihrer Einflußnahme auf die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen.

 

 

5. Unsere Gesellschaft muß den sich anthropologisch begründenden Bedürfnissen der Kinder und den Erfordernissen ihrer Persönlichkeitsentwicklung mehr Raum geben und sich unter diesem Gesichtspunkt neu verständigen und organisieren!

 

Erläuterung: Eine Gesellschaft, die sich wie die unsrige gegenwärtig nahezu ausschließlich als "Handlungsraum der Erwachsenen" und nicht in gleichem Maße auch als "Raum der Persönlichkeitsentwicklung ihrer Kinder und Jugendlichen" begreift und organisiert, vernachlässigt in einem entscheidenden Punkt ihre Zukunftsfähigkeit. Das sieht unsere gegenwärtige Gesellschaft nicht mit hinreichender Deutlichkeit. Sie redet zwar viel über die Notwendigkeit der Sicherung ihrer Zukunftsfähigkeit, ist aber in Wahrheit in dieser Hinsicht geradezu zukunftsblind infolge der anthropologischen Illusionen ihres öffentlichen Bewußtseins. Deshalb erkennt sie auch nicht, daß sie in gleichem Maße, wie sie seit Jahrzehnten finanziell auf Kosten der kommenden Generationen lebt, auch in sozialisationstheoretischer Perspektive auf Kosten ihrer Kinder lebt, da sie deren anthropologisch unverrückbaren Erfordernisse einer gelingenden Persönlichkeitsentwicklung sträflich vernachlässigt, um die Emanzipations- und Erlebnisbedürfnisse der heutigen Erwachsenen maximal befriedigen zu können.

 

Unsere Gesellschaft glaubt in ihrer anthropologischen Illusion anscheinend, das anthropologische Naturgesetz ignorieren zu können, wonach gelingende Persönlichkeitsentwicklung der Kinder Rücksichtsnahmen der Eltern in ihrer eigenen Lebensgestaltung auf die Persönlichkeitsentwicklungsbedürfnisse der Kinder zur Voraussetzung hat. In unserer Gesellschaft werden gegenwärtig die Persönlichkeitsentwicklungsbedürfnisse vieler Kinder geradezu sträflich vernachlässigt. Die Statistik der Kinder- und Jugendkriminalität, die vielfältigen Sozialisationsdefizite in Form von Sprach- und Entwicklungsstörungen verschiedenster Art, sind gesellschaftliche Krisensymptome. Sie signalisieren eine dramatische Verschlechterung der Sozialisationsbedingungen, die unsere Gesellschaft ihrem Nachwuchs bietet.

 

Viele, wenn nicht die meisten Kinder in unserer Gesellschaft müssen sich heute nach den Bedürfnissen ihrer Eltern richten und sich mit dem Maß an Zuwendung – um sie geht es letztlich – begnügen, das für sie dann noch übrig bleibt. Im Idealfall ist es genau umgekehrt: Die Eltern orientieren sich dann in ihrer Lebensgestaltung am Gesichtspunkt optimaler Persönlichkeitsentwicklungsbedingungen der Kinder.

 

Das Hauptproblem besteht darin, daß unsere gegenwärtige Gesellschaft ihr persönlichkeitsentwicklungsschädliches Treiben nicht einmal als Problem empfindet, sondern es in der Politik sogar – und zwar in allen Parteien! – noch lauthalts propagiert. Infolge ihrer anthropologischen Ignoranz propagiert sie nicht nur mit der größten Selbstverständlichkeit die Berufstätigkeit von Müttern kleiner Kinder und damit die faktische Elternentbehrung der Kinder mit der zwangsläufigen Folge einer Zuwendungsverarmung, sondern sie duldet darüber hinaus permanent schwerwiegende Attacken auf die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen in ihrer Mitte durch die Werbung, die Unterhaltungsindustrie und die Medien. Es ist durchaus nicht übertrieben, diesen Sachverhalt als staatlich geduldete Erziehungssabotage zu bezeichnen. Infolge ihrer anthropologischen Ignoranz sabotiert unsere Gesellschaft de facto die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen in ihrer Mitte, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben.

 

 

6. Es ist dringend erforderlich, die sozialisationsschädlichen Auswirkungen des gegenwärtigen gesellschaftlichen Lebens durch anthropologische Aufklärung zu beenden!

 

Erläuterung: Dies muß dadurch geschehen, daß wichtige Erkenntnisse der philosophischen Anthropologie und der Sozialisationsforschung, die teilweise bereits vor Jahrzehnten gewonnen wurden und der Öffentlichkeit im Prinzip seit langem gut aufbereitet zur Verfügung stehen, so propagiert werden, daß sie endlich vom öffentlichen Bewußtsein rezipiert werden und einen anthropologischen Bewußtseinswandel herbeiführen, dessen Resultat ein anthropologischer Realismus wäre, der sich an den erwähnten Erkenntnissen orientiert und das Drama des ergebnisoffenen Persönlichkeitsentwicklungsprozesses des jungen Menschen in sozialisationstheoretischer Perspektive betrachtet.

 

Im Anschluß an Theodor Wilhelms Plädoyer für die Übernahme der sozialisationstheoretischen Perspektive läßt sich gut verdeutlichen, worin die Folgen ihres Fehlens bestehen: darin, daß die negativen sozialisatorischen Wirkungen des gesellschaftlichen Klimas, die "Erziehungssabotage" durch die Massenmedien und andere negative Sozialisationsfaktoren (insbesondere auch die Werbung mit ihren "Verlockungen", ihren Suggestionen und ihrer ständigen lauten Propagierung äußerst problematischer "Menschenbilder") nicht in vollem Umfang erfaßt werden können. Der beste Beweis dafür, daß unserer Öffentlichkeit die sozialisationstheoretische Perspektive weitgehend fehlt, ist der Mangel an Empörung über die Sozialisationsschädlichkeit der Erziehungssaboteure, obwohl es bei objektiver Betrachtung in sozialisationstheoretischer Perspektive viel mehr Empörung verdiente als andere Sachverhalte, die die Öffentlichkeit viel eher und nachhaltiger erregen. Dieser Mangel an Empörungspotential angesichts massiver Sozialisationsschädlichkeit in einer Gesellschaft, die sich über andere Themen durchaus rasch und nachhaltig erregen kann, ist nur mit einer anthropologischen Ignoranz zu erklären, die aus der Weigerung unserer Gesellschaft resultiert, die wichtigen sozialisationstheoretischen Erkenntnisse zu rezipieren und ins öffentliche Bewußtsein einzuprägen. Die in diesem Falle festzustellende große Diskrepanz zwischen den für die gesamte Gesellschaft fundamental wichtigen wissenschaftlichen Erkenntnissen und dem öffentlichen Problembewußtsein mit Bezug auf diese Sachverhalte dürfte kaum eine Parallele in anderen Sachgebieten haben. Weder im ökonomischen noch im technischen Bereich dürfte es diese Diskrepanz zwischen "gehortetem" Wissen und öffentlichem Problembewußtsein geben.

 

Wird in der Bildungsdebatte der Begriff "Sozialisation" überhaupt gebraucht, dann allenfalls in Anführungszeichen als Signal der ironischen Distanzierung oder zumindest als Zeichen von Unsicherheit, ob es sich überhaupt um einen seriösen Begriff handele. Nicht selten ist in öffentlichen Debatten - etwa über Fragen nach den Ursachen der Gewalttätigkeit - zu beobachten, daß aus Verlegenheit der Begriff Erziehung verwandt wird, obwohl es der Sache nach um nichts anderes als um Fragen nach der Sozialisation der Täter, um ihre Lebensgeschichte geht. In solchen Situationen wird offenkundig, daß vielen der Begriff Sozialisation mit seiner Bedeutungskonnotation nicht zur Verfügung steht oder seine Verwendung jedenfalls nicht geläufig ist. Dabei ist dieser Begriff rund einhundert Jahre alt! Der französische Soziologe Émile Durkheim hat ihn im Jahre 1902 geprägt. Seither ist er im wissenschaftlichen Gebrauch. Bis heute hat er das Bewußtsein vieler Menschen nicht erreicht, auch vieler von denen nicht, die sich durchaus ernste Gedanken über die Ursachen der Gewalttätigkeit und darüber hinaus über die Gründe für das Absinken der Persönlichkeitsstandards in unserer Gesellschaft machen.

 

Es ist allerdings nicht völlig auszuschließen, daß die innere Sperre gegen die Rezeption dieses Begriffs (und gegen den von ihm erfaßten Sachverhalt) auch aus der Ahnung resultiert, daß man sich nicht folgenlos auf ihn einlassen kann. Ob hier die Ursache dafür zu finden ist, daß uns die Medien über alles mögliche "aufklären", aber nichts zur sozialisatorischen Aufklärung der Gesellschaft und damit zur Eröffnung einer sozialisationstheoretische Perspektive beitragen? Ich erinnere mich an keine Sendung, die einmal grundsätzlich über die Plastizität des Menschen als Ausgangsbedingung seiner Persönlichkeitsentwicklung nach der Geburt, über die völlige Ergebnisoffenheit des Prozesses der "Menschwerdung des Menschen" sowie über die vielfältigen Möglichkeiten der negativen Einflußnahme und damit der Störung oder gar völligen Verhinderung dieses Prozesses informiert hätte. Ich werde daher den Verdacht nicht los, daß ein ausgeprägtes sozialisatorisches öffentliches Bewußtsein, ein Wissen also um die weitreichende Beeinflussung des Persönlichkeitsentwicklungsprozesses durch die Gesellschaft nicht im Interesse der Medien liegt, weil sie ahnen, daß sich dieses Bewußtsein sehr bald auch gegen sie richten und daß die sozialisationstheoretische Perspektive zum entscheidenden Bezugspunkt der Medienkritik werden könnte. Die Frage wäre dann nicht mehr primär die nach der Attraktivität eines Programms, sondern die nach der sozialisatorischen Auswirkung.

 

Hätte die Öffentlichkeit einmal wirklich begriffen - so könnte die Befürchtung der Medien lauten -, daß dies nicht irgendeine nebensächliche Frage ist, sondern eine nach der Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft, dann wäre eine massive Medienkritik - und zwar mit nur geringen Unterschieden bei den einzelnen Sendern! - in sozialisationstheoretischer Perspektive unausbleiblich. Das wäre das Ende der "guten Tage" des Fernsehens. Solange unserer Gesellschaft aber die sozialisationstheoretische Perspektive fehlt, werden die Medien weiter auf sozialisationsschädliche Weise die Spaßgesellschaft "unterhalten" und mit moralischer Destruktion gewinnbringend ihre Quoten produzieren und an die Werbeauftraggeber verkaufen können, ohne daß dies nennenswerte Empörung auslöst. Solange wird die Fernsehwelt aus Sicht der Fernsehverantwortlichen "in Ordnung" sein.

 

 

7. Ein vorläufig noch utopisches Fernziel wäre eine staatliche Sozialisationspolitik oder "moralische Umweltschutzpolitik" analog zur physischen Umweltschutzpolitik durch Änderung des Grundgesetzes, sobald die politischen Mehrheitsverhältnisse dies möglich machen!

 

Erläuterung: Der Endpunkt einer Aufklärung in sozialisatorischer Perspektive könnte und müßte darin bestehen, den Staat durch Änderung des Grundgesetzes auf Sozialisationspolitik zu verpflichten. Das würde bedeuten, daß der Staat den Gesichtspunkt der indirekten Erziehung aufgreift und deshalb das Sozialisationsklima als wichtigen "Gegenstand" der politischen Gestaltung begreift und in Fortsetzung des - negativ akzentuierten – Jugendschutzge

 dankens eine gezielte - positiv akzentuierte    Politik der Förderung der Persönlichkeitsentwicklung durch Gewährleistung möglichst günstiger Sozialisationsbedingungen betriebe.

 

Als Zwischenstufe wäre die Institutionalisierung eines "staatlichen Sozialisationsbeauftragen" vorstellbar (analog zu den Beauftragen in anderen Politikbereichen) mit dem Auftrag der Beobachtung der sozialisatorischen Weiterentwicklung der Gesellschaft und der jährlichen Abgabe eines "Sozialisationsberichts" als Ausgangspunkt und Grundlage einer alljährlichen öffentlichen Debatte über die Sozialisationsbedingungen der Kinder und Jugendlichen in unserer Gesellschaft sowie zur Schärfung des sozialisatorischen Bewußtseins unserer Öffentlichkeit und der Medienverantwortlichen. Läßt man sich einmal gedanklich auf diese Möglichkeit ein, fragt man sich angesichts der dramatischen Entzivilisierungsphänomene unwillkürlich, weshalb es nicht längst einen solchen Sozialisationsbeauftragten gibt. Daß es ihn nicht gibt, ist nur ein weiteres Indiz für die Sozialisationsvergessenheit unserer Gesellschaft.

 

Die Grundgesetzänderung zur Verpflichtung des Staates auf gezielte "moralische Klimaförderungspolitik", kurz Sozialisationspolitik genannt, könnte etwa folgendermaßen aussehen. Artikel 6 des Grundgesetzes, der den Staat auf den Schutz der Familie verpflichtet, könnte folgende Ausweitung erfahren:

 

·         Kinder und Jugendliche haben ein Grundrecht auf ein öffentliches Klima (Sozialisationsklima), das ihrer körperlichen, geistigen, seelischen und moralischen Entwicklung förderlich ist.

 

·         Das öffentliche Klima (Sozialisationsklima) steht unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.

 

·         Die politische Gestaltung des öffentlichen Klimas mit dem Ziel der Gewährleistung möglichst günstiger Sozialisationsbedingungen für Kinder und Jugendliche ist eine vorrangige Aufgabe politischer Zukunftsgestaltung.

 

·         Die staatlichen Organe haben alle ihnen zu Gebote stehenden Möglichkeiten voll auszuschöpfen, um negative Einflußfaktoren auf das öffentliche Klima (Sozialisationsklima) zurückzudrängen.

 

Zur Schaffung der Voraussetzung für eine rechtliche Sanktionierung sozialisationsschädlichen Verhaltens könnte und müßte darüber hinaus das Grundrecht der freien Meinungsäußerung sowie der Freiheit der Kunst (Artikel 5 GG) mit einer sozialisatorischen Klausel versehen werden, die die Inanspruchnahme dieser Grundrechte zur Rücksichtnahme auf die sozialisatorischen Auswirkungen dieser Inanspruchnahme verpflichtet. Das könnte analog zur Bestimmung in Abs. 3 Art. 5 GG - "Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung" - in etwa so formuliert werden:

 

·         Die Berufung auf das Grundrecht der freien Meinungsäußerung sowie auf die Freiheit der Kunst entbindet nicht von der Mitverantwortung für das öffentliche Sozialisationsklima.

 

·         Die Wahrnehmung dieser Grundrechte findet ihre Grenze dort, wo sie sozialisationsschädliche Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche in der Gesellschaft hat.

 

·         Jeder Bürger ist für das öffentliche Sozialisationsklima mit verantwortlich und hat infolgedessen die sozialisatorischen Auswirkungen der Inanspruchnahme seiner Grundrechte stets mit zu bedenken.

 

Ließe sich für die Verwirklichung dieser Vorschläge (oder auch nur eines Teiles von ihnen) die erforderliche Mehrheit finden, so wäre ein Wunder der klimatischen Verwandlung unserer Gesellschaft die Folge. Diese Verwandlung hätte wiederum Rückwirkungen auf das sozialisatorische Bewußtsein. Es würde wacher und empörungsbereiter werden. Darauf kommt es letztlich an. Denn potentielle Erziehungssaboteure würde es wohl auch weiterhin geben. Aber sich könnten sich nicht mehr so ungehindert "entfalten" wie heute.

 

Zwar ist es nicht sehr wahrscheinlich, daß die hier aufgezeigten Möglichkeiten in absehbarer Zeit verwirklicht werden. Dennoch ist das Aufzeigen von Möglichkeiten ohne konkrete Realisierungschancen durchaus nicht sinnlos, sondern erkenntnisbedeutsam. Denn dadurch wird deutlich, daß der derzeitige Zustand kein unabwendbarer ist, sondern daß Änderungen möglich wären, wenn nur eine hinreichend große Anzahl der Bevölkerung dies wollte. Es sind somit letztlich keine unüberwindbaren sachlichen Hindernisse, die einem besseren Sozialisationsklima im Wege stehen, sondern es sind mentale Hindernisse. Vielleicht kann beharrliche sozialisatorische Aufklärung sie ja doch überwinden.

 

 

Schlußbemerkung

 

Will die Bildungsdebatte der großen Herausforderung durch die gegenwärtige Bildungsmisere gerecht werden und die zu ihrer Überwindungen erforderlichen tiefgreifenden Veränderungen herbeiführen, so muß sie ihre Perspektive erheblich erweitern: Sie muß die gesellschaftliche Wirklichkeit mit in den Blick nehmen, die die Kinder und Jugendlichen in unserer Gesellschaft als Ausgangsbedingung ihrer Persönlichkeitsentwicklung vorfinden. Sie muß die sich häufenden Fälle gravierender Persönlichkeitsentwicklungsstörungen endlich zur Kenntnis nehmen und sie nicht lediglich als persönliches Schicksal der betroffenen Kinder verstehen, sondern als gesamtgesellschaftliche Krisensymptome, nämlich als Signale dafür, daß sich die Sozialisationsbedingungen für die Kinder und Jugendlichen in unserer Gesellschaft dramatisch verschlechtert haben und weiter verschlechtern.

 

Die Bildungsdebatte muß endlich realisieren, daß die Persönlichkeitsstruktur des jungen Menschen - als Resultat seiner "Menschwerdung" im Prozeß der Sozialisation – mindestens so entscheidend ist für seinen Bildungserfolg – wie im übrigen auch für seinen beruflichen Erfolg und darüber hinaus für sein "Glück" und seinen "Lebenserfolg" – wie seine Intelligenz.

 

Die Bildungsdebatte muß ihre gegenwärtige Fixierung auf Fragen des schulischen Unterrichts, der Informationsvermittlung und der Intelligenzförderung überwinden und sich von einem ganzheitlichen Ansatz bestimmen lassen, der die Persönlichkeitsentwicklung des jungen Menschen in einem umfassenden Sinn in den Mittelpunkt rückt.

 

Ein solcher Ansatz sieht die Persönlichkeitsstruktur als entscheidenden Bedingungsfaktor eines erfolgreichen Bildungsprozesses und zugleich als Fundament einer ganzheitlichen Bildung. Und weil die Persönlichkeitsstruktur entscheidend durch die gesellschaftliche Wirklichkeit geprägt wird, wie die sozialisationstheoretische Perspektive zeigt, deshalb muß die Bildungsdebatte diese Wirklichkeit in den Blick nehmen und in ihre Verbesserungsüberlegungen mit einbeziehen.



[1] Ferdinand Oeter: Sozialisation, Enkulturation und Personalisation sowie ihre Störungen in medizinischer Sicht. In: Sozialisation und Personalisation, hrsg. Von Gerhard Wurzbacher, Stuttgart 1963, S.122.

[2] Christa Meves: Neurosenprophylaxe in den ersten drei Lebensjahren - Ergebnisse der neuen Hirnforschung und ihre Bedeutung. In: Christian Leipert (Hrsg.): Familie als Beruf: Arbeitsfeld der Zukunft, Opladen 2001, S. 97ff., hier S. 98f.

[3] Lotte Köhler in der Einleitung zu: Karl Heinz Brisch: Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie, Stuttgart 1999, S.13.

[4] Ebenda, S.34f.

[5] Gerald Hüther: Die Bedeutung emotionaler Sicherheit für die Entwicklung des kindlichen Gehirns. In: Karl Gebauer und Gerald Hüther (Hrsg.): Kinder brauchen Wurzeln. Neue Perspektiven für eine gelingende Entwicklung, Düsseldorf und Zürich 2001, S.15.

[6] Johannes Messner: Widersprüche in der menschlichen Existenz. Tatsachen, Verhängnisse, Hoffnungen, Innsbrruck-Wien-München 1952, S.206f.

[7] Meves, a.a.O., S.99.

[8] Ebenda.

[9] Der Kongreß fand am 22./23. November 2000 statt. Der Berichtsband mit allen Vorträgen wurde herausgegeben von Karl Gebauer und Gerald Hüther unter dem Titel: Kinder brauchen Wurzeln. Neue Perspektiven für eine gelingende Entwicklung, Düsseldorf und Zürich 2001.

[10] Karl Gebauer und Gerald Hüther, a.a.O., S.10 (Hervorhebung J.S.).

[11] Ebenda, S.11

[12] Christ in der Gegenwart vom 21. Februar 1993.

[13] DER SPIEGEL 2/1993; Überschrift der Titelgeschichte: "Ein Volk im Schweinestall"

[14] Bulletin des Bundespräsidialamtes vom 29. Mai 1996.

[15] DIE WOCHE vom 30. Januar 1998.

[16] Wolfgang Brezinka: Erziehung in einer wertunsicheren Gesellschaft, München und Basel 1993, S.12.

[17] Klaus Hurrelmann: Einführung in die Sozialisationstheorie. Über den Zusammenhang von Sozialisation und Persönlichkeit, Weinheim und Basel, 3. Aufl. 1990, S.14.

[18] Helmut Fend: Sozialisierung und Erziehung. Eine Einführung in die Sozialisationsforschung, Weinheim und Basel, 8. Aufl. 1976, S.52.

[19] Wolfgang Brezinka: Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft, München und Basel, 5. Aufl. 1990, S.95.

[20] Zweiter Familienbericht: Familie und Sozialisation - Leistungen und Leistungsgrenzen der Familie hinsichtlich des Erziehungs- und Bildungsprozesses  der jungen Generation. Hrsg. vom Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit, Bonn 1975, Zweiter Teil (Bericht der Sachverständigenkommission), S.13.

[21] So eine Kurzformel von Wolfgang Brezinka zur Kennzeichnung von "Lebenstüchtigkeit" als dem von ihm propagierten umfassendsten Erziehungsziel in: Erziehung in einer wertunsicheren Gesellschaft, München und Basel, 3. Aufl. 1993, S.11.

[22] Dietrich Schwanitz: Bildung. Alles, was man wissen muß, München 2002, S.27-32.

[23] Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland "Maß des Menschlichen. Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft", Gütersloh 2003, S. 23.

[24] Horst Hensel: Die Neuen Kinder und die Erosion der Alten Schule. Eine pädagogische Streitschrift, München 1993, S. 18-20.

[25] Marga Bayerwaltes: Große Pause! Nachdenken über Schule, München 2002.

[26] Ebenda, S. 143f.

[27] Rede des Bundespräsidenten Johannes Rau auf dem Kongreß "Wissen schafft Zukunft" des "Forums Bildung" am 14. Juli 2000, zitiert nach der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 15. Juli 2000.

[28] Jürgen Mittelstraß: Bildung und ethische Maße. In: Die Zukunft der Bildung, herausgegeben von Nelson Killius, Jürgen Kluge und Linda Reisch, Frankfurt am Main (edition suhrkamp2289) 2002, S. 151ff., hier S.155-159.

[29] Theodor Wilhelm: Über das Verhältnis von Sozialisation und Erziehung. In: Sozialisation und Personalisation, hrsg. von Gerhard Wurzbacher, Stuttgart 1974, S. 133-162.


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