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Menschenrecht auf Religion? - Die Kinder und ihre Erzieher

Die Kinder religiös erziehen - das ist für die meisten Eltern Nebensache. Doch nicht mehr für alle. Einzelne junge Mütter und Väter beginnen umzudenken. Und mit ihnen die Pädagogen.


Menschenrecht auf Religion?


Von Johannes Röser in: www.christ-in-der-gegenwart.de


In den bewegten Wende-Tagen des November 1989 verabschiedeten die Vereinten Nationen eine Kinderrechtskonvention. Die Öffentlichkeit interessierte das nicht. Zu aufwühlend war der Mauerfall, zu aufregend waren die Ereignisse in der Mitte Europas. Noch zweieinhalb Jahre dauerte es, bis die Bestimmungen für Deutschland Gesetzeskraft erlangten: am 5.April 1992. Doch selbst am zwölften „Geburtstag" schrecken die dort formulierten Einsichten fast niemanden auf. Dabei werden die UNO-Vorgaben vor allem in einem Punkt bei uns massiv verletzt, sogar zunehmend. Artikel 27 sagt: „Die Vertragsstaaten erkennen das Recht jedes Kindes auf einen seiner körperlichen, geistigen, seelischen, sittlichen und sozialen Entwicklung angemessenen Lebensstandard an." In die amtliche Übersetzung hat sich allerdings ein gravierend sinnentstellender Fehler eingeschlichen. Im englischen Original ist die Rede von „spiritual development", von „spiritueller Entwicklung". Gemeint ist damit das Recht des Kindes auf Spiritualität, auf religiöse Entfaltung und Erziehung. Im Deutschen wurde das abgeschwächt, verharmlost, umgebogen auf „seelische Entwicklung". Fürchtete man, klar zu sagen, was klar gemeint ist? Kinder haben ein Menschenrecht auf Religion! Und Eltern, Kindergärtnerinnen, Lehrer... haben die Menschenpflicht, zur Religion zu erziehen.



Der evangelische Tübinger Religionspädagoge Friedrich Schweitzer hat neulich auf diese besondere Form von Menschenrechtsverletzung aufmerksam gemacht. Die Wortverdrehung sei wohl ein Grund, „warum das Recht des Kindes auf Religion gerade in Deutschland so unbekannt geblieben ist". Dabei werden in jenem gesetzlich verbindlichen Text die Aufgaben deutlich benannt: „Es ist in erster Linie Aufgabe der Eltern oder anderer für das Kind verantwortlicher Personen, im Rahmen ihrer Fähigkeiten und finanziellen Möglichkeiten die für die Entwicklung des Kindes notwendigen Lebensbedingungen sicherstellen." Damit ist gerade nicht nur Geld gemeint, sondern Geist, der Wille, auch auf religiösem Gebiet erzieherische Vollmachten zu erwerben und unter den Kindern religiöse Kompetenz zu wecken.

Mindestens genauso wichtig wie Frühgymnastik

Den Kindern geht es in unseren Breiten materiell so gut wie nirgendwo sonst. Geistig-religiös jedoch werden sie in einer Weise vernachlässigt wie in kaum einer anderen Weltregion. Schweitzer beobachtet eine eigenartige Blindheit. Jeder möchte das Beste für sein Kind. Nur im Besten, in dem, was den Menschen unbedingt angeht, in der Gottesfrage, handeln wir leidenschaftslos und distanziert. Das Erziehungsziel Religion rangiert in vielen Umfragen weit hinten. Schweitzer sieht nur einen Weg: die Eltern aufklären, „daß religiöse und ethische Erziehung in der Kindheit keineswegs weniger wichtig ist als beispielsweise Frühgymnastik, frühes Fremdsprachenlernen oder Frühmathematik". Kinder müssen religiös begleitet werden in den großen Fragen über den Sinn des Lebens, die sie oft unvermittelt, spontan, spielerisch, aber bohrend stellen. Kinder sind keineswegs so naiv, wie man manchmal meint. Sie ahnen oft sehr wohl mehr, als sie ausdrücken können. Und manchmal bringen sie die Paradoxien des Daseins viel genauer auf den Punkt als die Erwachsenen. Auch in religiöser Hinsicht gibt es das „kompetente" Kind, wie Pädagogen beobachten. Aber es braucht Anregung, Ermutigung, Unterstützung, um zu sagen, was niemand aus seinem Umfeld zu sagen wagt. Junge Eltern sind oft verunsichert, wenn ihr Nachwuchs plötzlich von religiösen Dingen spricht, mit denen sie selber längst abgeschlossen zu haben meinen. Kinder bringen ihre Eltern nicht selten auf die Spur ihrer eigenen Verlegenheit und ihrer verdrängten Fragen. Schweitzer: „Stärker als bislang in der Forschung betont, sollte... die Rolle des fragenden, suchenden, also aktiven Kindes in die Untersuchung einbezogen werden. Religiöse Familienerziehung verläuft nicht in nur einer Richtung von den Eltern auf die Kinder!" Das verlangt von der Erziehungswissenschaft wie von den populären Ratgebern und Handbüchern, endlich das Tabu Religion zum öffentlichen Thema der Erziehungsverantwortung zu machen.

Da und dort beginnen junge Mütter und Väter, Erzieherinnen und Erzieher umzudenken. An der Universität Tübingen ist ökumenisch und fächerübergreifend sogar ein Forschungsprojekt „Religiosität und Familie" ins Leben gerufen worden. Bis zu jugendpsychiatrischen und kriminologischen Perspektiven wird das Feld umfassend bearbeitet. Erste Ergebnisse sind neulich bei einem Frankfurter Symposion - gemeinsam mit der Stiftung Ravensburger Verlag - vorgelegt worden.

Brauchen Kinder Religion? Die Antwort ist für die beteiligten Wissenschaftler eindeutig: Ja. Und sie brauchen nicht nur irgendetwas Religiöses, sie brauchen „gute" Religion. Diese fällt auch erzieherisch nicht vom Himmel. Religiöses Lernen ist wie jedes andere Lernen ein lebenslanger Prozeß mit Horizonterweiterungen, Krisen, Umbrüchen, Korrekturen, Neuanfängen. Ohne religiöses Reifen bleibt der Mensch auch in vielen anderen Bereichen des Lebens unreif, infantil, kindisch. Wie immer man für sich selber die Gottesfrage entscheidet, ob man an Gott glaubt oder nicht - als Motor der Auseinandersetzung mit dem Leben ist und bleibt das Religiöse Dreh- und Angelpunkt der Existenz, der Persönlichkeitsentwicklung.

Der Kinder- und Jugendpsychiater Gunther Klosinski bestätigt die ungeheure Entwicklungsdynamik, die an die religiöse Frage gekoppelt ist und den Heranwachsenden wie den Erwachsenen ständig stimuliert, nicht stehenzubleiben, sondern neugierig sich selbst und die Weltsichten weiter zu entwerfen. Eine lebendige Religiosität treibt das gesamte Leben voran. „Religiöse Vorstellungen und Gottesbilder sind Teil eines sich stetig wandelnden Weltbildes auf den unterschiedlichsten Entwicklungsstufen... Religiosität wurzelt im Grundvertrauen, das der Säugling am Anfang seines Lebens aufbauen muß: Es ist das Vertrauen in ein Versorgt- und Gehalten-Werden, die Hoffnung auf eine bedingungslose Annahme bei totaler Abhängigkeit von der Mutter und den Hauptbezugspersonen. Auch bleibt ein in der frühen Kindheit erfahrenes beziehungsweise erworbenes Grundvertrauen später in Form einer Sehnsucht nach einem größeren Gegenüber, das Schutz und Geborgenheit verleihen kann."

Gott ist eben nicht nur einfach

Inzwischen ist nachgewiesen, daß positive Elternbilder und positive Elternerfahrungen dem Kleinkind helfen, positive Gottesbilder und Gotteserfahrungen zu bekommen. Umgekehrt drohen - wie man aus tragischen Glaubensgeschichten weiß - kirchlich oder religiös erzeugte Neurosen, wenn ein strafender Über-Gott die erzieherische Szenerie beherrscht. Freilich lernt der Mensch schon als Kleinkind, daß das Leben nie nur gut ist, daß die Eltern nie perfekt sein können. Vieles im Leben ist gebrochen, tragisch, unvollendet, paradox - Gott selbst, den unsere Logik nie begreift. Auch diese Erfahrung gehört zu einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung. Gerade dann kann eine sensible religiöse Erziehung helfen, das Dunkle zu integrieren, das Gottesbild durch Enttäuschungen und existentielle Krisen hindurch zu weiten. Gott ist eben nicht nur eine Projektion unserer Träume und Bedürfnisse.

In der Pubertät wird es besonders wichtig, daß die Jugendlichen in ihrem Zweifel über Gott und Welt nicht im Stich gelassen, sondern angeregt werden, sich durch Sinnlosigkeit zum Sinn durchzuarbeiten, inmitten der Polarität von Liebe und Leid, Lust und Schmerz, Leben und Tod. Der religiöse Zweifel ist notwendig, um religiös weiterzukommen, um vom Kinderglauben zu einem Erwachsenenglauben zu finden. „In der Pubertät und Adoleszenz bekämpfen sich Wissen und Glauben als unvereinbare Aspekte. Aufgabe des reifen Adoleszenten ist es dann, sie wieder zusammenzuführen im Sinne einer Ergänzung."

So wie der Mensch körperlich sein Immunsystem stärkt und aufbaut, indem er es Krankheitserregern aussetzt, so ist es auch mit der seelisch-geistigen Gesundheit. Religiöse Kräfte, die durch die Nacht Gottes gegangen sind, helfen, auch das Dasein besser zu bewältigen. Gläubige sind ja nicht weniger angefochten als Nicht-Glaubende. Der Schmerz am Leben, die Verzweiflung kann sogar noch unbarmherziger sein, wenn man meint, daß eigentlich doch ein guter Gott alles in seiner Hand habe. Religion ist alles andere als Vertröstung, als Opium des Volkes. Der dunkle, abwesende, schweigende Gott des Karfreitags, der Tod Gottes tritt oft genug in die Mitte des Glaubens. Die dramatischen Erfahrungen der Mystiker zeigen es. Doch kann die Auferstehungs-Perspektive immer wieder neu aus tiefster Gottesfinsternis herausholen.

Das Christentum geht in emotionaler Erbauung und Psychohygiene nicht auf. Zu widerspenstig ist der Ein-Gott-Glaube. Für eine bloß bürgerliche Therapiereligion taugt er nicht. Aber die biblisch-österliche Hoffnung auf Heil, Erlösung und Rettung hat durchaus ihre psychischen, genauer: psychosomatischen Facetten. Inzwischen belegen unzählige Studien - so der Psychiater -, „daß die Vorstellung von Gott als eines wohlwollenden gütigen ,Partners'... mit einer besseren psychischen Gesundheit verbunden ist". Die Wirkung ist im gewöhnlichen Alltag durchaus zu spüren. Religiöse Menschen zeigen sich insgesamt als sozialer, konflikt- und widerstandsfähiger. Sie sind - zum Beispiel - tatsächlich weniger anfällig für Suchtkrankheiten. Ihre Ehen sind stabiler, vor allem weil in einer schweren Ehekrise „die Versöhnungsbereitschaft größer" ist. „Menschen mit hohem spirituellem und religiösem Engagement weisen geringere feindselige Tendenzen auf und haben einen größeren Optimismus und mehr Hoffnungen." Sie reagieren auch in engagierter Gelassenheit auf Dinge, die sich nach menschlichem Ermessen nicht ändern lassen. „Religion kann die Basis für die Selbstachtung und für das Selbstwertgefühl abgeben." Religiöse Bildung - daran besteht kein Zweifel mehr - ist höchst bedeutsam für Bildung überhaupt, für Herzensbildung, Geistesbildung, Gewissensbildung, für die Menschwerdung des Menschen vom Säuglings- bis zum Greisenalter. Und: Religiöse Bildung ist wie alle Bildung in erster Linie Beziehung.

Selber denken, selber glauben, selber leben

Der Religionspädagoge Albert Biesinger sieht religiöse Erziehung in erster Linie als einen Weg, Beziehung zu stiften und Kommunikation zu verdichten: zwischen Eltern und Kindern, Kindern und Eltern, zwischen den Eltern, zwischen den Geschwistern, zwischen Mensch und Gott. Religiöse Erziehung soll befreien. Junge Leute soll sie ermächtigen zur „Ausbildung einer eigenständigen Gottesbeziehung". Biesinger weist darauf hin, daß der Kern solcher Beziehung Sprache ist - verbal wie nonverbal. Das entscheidende Ziel soll sein, Sprachmächtigkeit zu wecken und zu entfalten, zum Beispiel im Beten, in Ritualen, in Symbolen, im sakramentalen Geschehen. In einer guten Sprache des Glaubens spiegelt und entwickelt sich die ganze Persönlichkeit. In der religiösen Sprache buchstabiert sich das Wesen Mensch mit seiner expressivsten Kraft - vor dem Ewigen, dem Heiligen, vor Gott.

Auch der religiöse Mensch ist natürlich kein Held. Gerade der religiöse Mensch bleibt Sünder. Er weiß um seine Sündhaftigkeit. Die biblischen Erzählungen mahnen uns zu Bescheidenheit. Die Heilige Schrift vertritt gerade kein Sieger-Menschenbild, wonach der Fromme allein schon durch seine Religiosität gut sei. Die besten religiösen Texte sind realistisch - und deshalb so menschlich. Sie wissen um das Fehlbare. Biblisch gibt es keine Unfehlbarkeit. Der Kriminologe Hans-Jürgen Kerner weist darauf hin, daß alle großen religiösen Figuren in der jüdisch-christlichen Geschichte immer wieder anfällig waren für Versuchungen. Sie sind keine Oberflächen-Heiligen. Entscheidend für ihre Heiligkeit ist ihre Fähigkeit, die Sündhaftigkeit einzusehen, zu bereuen, umzukehren. „Ihre Religiosität zeigt ihnen... Wege auf, nach einer Versuchung oder Tat mit sich, der Umwelt und letztlich mit Gott wieder ins Reine zu kommen und ernsthaft daran zu arbeiten, daß sich das Böse nicht - in ihnen beziehungsweise durch sie - erneut wiederhole."

Religiöse Erziehung hilft, sich in die Grundunterscheidung zwischen Gut und Böse einzuüben. Religion macht den Menschen - potentiell - besser, wappnet ihn jedoch nicht für jede Situation. „Normkenntnis und grundlegende Bejahung moralischer Grundsätze reichen gegebenenfalls nicht aus, um den Betroffenen durchweg und durchgehend vor unheilvollem Tun zu bewahren. Priester, die wegen sexuellen Kindesmißbrauchs angeklagt sind, stellen insoweit nur eine andere Variante der Polizisten dar, die sich wegen Bankraubes verantworten müssen. Zusammengefaßt: Es kann also nur um einen relativen Schutz gehen." Für den Kriminal-Fachmann steht jedoch außer Zweifel, daß Religiosität entscheidend ist dafür, „Achtung vor dem Leben, Achtung vor der Würde der anderen" aufzubauen.

Religion ist kein billiges Schmiermittel zum Funktionieren einer Gesellschaft. Religion ist ebenso Widerspruch, Widerstand, Reibung. „Es gibt ein Jenseits des Funktionierens", schrieb die linke Berliner „Tageszeitung" neulich zur Wiederentdeckung des Religiösen bei Jürgen Habermas. Solcher Nachdenklichkeit und Widerborstigkeit gegen die Stromlinienförmigkeit des Dahinlebens kann und soll religiöse Erziehung dienen. Selber denken, selber glauben, selber leben. Deshalb ist das Kinderrecht auf Religion eine Menschenpflicht, die auch uns Erwachsene aus dem Tanz um unsere Goldenen Kälber befreit, österlich.

Quelle: CiG 15/2004


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